Dienstag, 4. September 2012

Petrus hatte ADHS

Andacht am 25.9.2011 im Caritas-Haus, Feldberg anlässlich der gemeinsamen Mitgliederversammlung der Landesverbände Hessen und Baden-Württemberg.


Petrus hatte ADHS. Das ist eine stramme Behauptung.
Ich habe sie von einer Freundin aufgeschnappt, als wir uns im Hauskreis beieinander waren.
Ein Hauskreis ist ein regelmäßiges Treffen von Christen außerhalb eines Gottesdienstes.
Man kann dort über Dinge des Glaubenslebens besser und persönlicher sprechen als in der Kirche.
Wir lesen dort auch gemeinsam in der Bibel.
An einem Abend lasen wir die Geschichte, als Simon Petrus im Sturm Jesus auf dem Wasser entgegenkommen wollte (Mt. 14,22ff).
Simon Petrus ist der bekannteste Jünger Jesu. Sein ursprünglicher Name war Simon. Später hat er den Beinamen Petrus bekommen, unter dem er heute bekannt ist.
Petrus heißt Fels oder Stein.
Den Namen erhielt er von Jesus: Du bist Simon; du sollst Petrus, der Fels heißen. (vgl Joh. 1,42)
Fels deshalb, weil Simon später eine führende Rolle in der christlichen Gemeinde einnahm.
In dieser Geschichte geht es allerdings darum, dass er beinahe wie ein Stein im Wasser versunken wäre.
Ich erzähle sie kurz:
Jesus war als Wanderprediger unterwegs.
Er und seine Jünger bereisten die Gegend im Norden Israels, in der der See Genezareth liegt.
Sie hatten einen langen, anstrengenden Tag hinter sich.
Denn es kamen täglich viele Leute zu ihnen, während sie durch die Lande zogen.
An diesem Abend sagte Jesus zu seinen Jüngern, sie mögen zum Strand des Sees Genezareth gehen, um mit einem ihrer Boote ans andere Ufer überzusetzen.
Er käme nach, sobald er die Leute nach Hause geschickt hatte.
Jesus wollte auch die Gelegenheit nutzen, um allein zu sein und zu beten.
Der ständige Betrieb kostete ihn Kraft.
Die Jünger machten sich auf den Weg. Es waren kernige Fischer vom See Genezareth, die mit Booten gut umgehen konnten.
Als sie sich aber mitten auf dem See befanden, erhob sich ein starker Wind.
Trotz ihrer Berufserfahrung gerieten sie in arge Bedrängnis.
Denn dieser Wind, ein regelrechter Sturm, forderte alle Kraft von ihnen.
Sie plagten sich die ganze Nacht.
Mitten in der Nacht sahen sie plötzlich eine Gestalt auf sich zukommen.
Und zwar auf den Wellen.
Dieser Anblick war für sie ebenso unglaublich wie für uns heute.
Sie dachten, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen und sie sähen schon Gespenster.
Aber es war Jesus.
Er sprach zu ihnen, um sie zu beruhigen: „Fürchtet euch nicht, ich bin es.“
Ich schätze, wenn mir jemand während eines nächtlichen Seesturms auf dem Wasser entgegenkommt und sagt, ich solle keine Angst haben, wird es mir eher schwer fallen, mich zu beruhigen.
Die Jünger im Boot schlotterten vor Angst. Und zwar nicht nur aus Angst vor dem Sturm, sondern auch aus Angst, den Verstand zu verlieren.
Bis auf einen, Simon Petrus. Er reagierte völlig anders als die anderen.
Er ergriff die Gelegenheit und verlangt von Jesus: „Jesus, wenn du es wirklich bist, dann sage mir, dass ich auf dem Wasser zu dir kommen soll.“
Jesus antwortete ihm: „Komm!“ und Simon verließ das Boot.
Simon Petrus ging tatsächlich einige Schritte auf Jesus zu, aber angesichts des heftigen Windes bekam er Angst und begann im Wasser zu versinken.
Er schrie nach Jesus: „Herr, rette mich!“ und Jesus zog ihn empor.
Er fragte Simon: „Du hast mir geglaubt, auf dem Wasser zu gehen, warum hast du nach ein paar Schritten gezweifelt?“
Als die beiden ins Boot zurückgekehrt waren, legte sich der Wind und alle Jünger riefen: „Jesus, du bist wirklich Gottes Sohn!“
Soweit die Geschichte.
Nachdem wir die Geschichte gelesen hatten, rief die Freundin aus dem Hauskreis: „Im Sturm aus dem Boot zu steigen und übers Wasser zu gehen, was für eine abgefahrene Idee! Typisch ADHS! Petrus hatte ADHS.“
Wir haben natürlich gelacht. Es ist eine witzige Idee, Simon, der vor 2000 Jahren lebte mit etwas so modernem wie ADHS in Verbindung zu bringen.
Aber die Bemerkung ist bei mir haften geblieben. Denn etwas in dran an ihr.
Versetzen Sie sich ins Boot der Jünger:
Sie erleben eine völlig unglaubliche, ja irrwitzige Situation. Kein normaler Mensch käme auf den Gedanken, solch eine Situation auszunutzen.
Aber Simon Petrus war offenbar nicht normal. Er zeigt hier die typischen Verhaltensweisen eines Menschen mit ADHS:
Er reagiert mutwillig, impulsiv, redet, bevor er nachdenkt und macht einfach, was ihm durch den Kopf schießt.
Typisch ADHS.
Doch die aberwitzige Situation setzt sich weiter fort.
Jesus fordert Simon Petrus tatsächlich auf, das Boot zu verlassen und zu ihm zu kommen.
Nach ein paar Schritten auf den Wellen muss Simon Petrus allerdings zur Besinnung gekommen sein.
Was er tat, war völlig unglaublich.
Und prompt versinkt er im Wasser.
Es ist so, als hätte der Glaube an Jesus ihn in die Lage versetzt, über das Wasser zu gehen.
Doch in dem Moment, da die Angst seinen Glauben wegspült, geht er unter.
Er schrie um Hilfe und Jesus muss ihn aus den Wellen ziehen.
Das ist auch typisch für Leute mit ADHS: Sie setzen sich einer unmöglichen Situation aus, rutschen ab und andere müssen dann dafür sorgen, dass sie wieder auf die Beine kommen.
Leute mit ADHS verwechseln regelmäßig Mut mit Mutwillen.
Es sind Leute, die mit Begeisterung aus einem Flugzeug springen, um plötzlich festzustellen, dass sie keinen Fallschirm dabei haben.
Simon Petrus wird im Verlauf seines Lebens noch manche solcher Dinger drehen.
Ein berühmtes Beispiel ist sein Verrat an Jesus:
Erst gelobte er vollmundig, immer zu Jesus zu stehen und ihn selbst in Todesgefahr nicht zu verlassen.
Dann aber scheiterte er kläglich, verrät seinen Herrn drei Mal nur Stunden später.
Ich habe Simon nie als einen unaufrichtigen Menschen gesehen; in dem Moment, da er etwas ausspricht oder unternimmt, ist er ganz dabei.
Aber es hielt eben nur einen Augenblick. Simon erschien mir zu wechselhaft und ungefestigt.
Wie eigenartig, dass Jesus ausgerechnet ihn zum Petrus, zum Felsen macht.
Ich glaube, es gibt einen Grund dafür, ich glaube, Simon war für Jesus ein besondere Stein, ein Rolling Stone.

Das hat folgenden Grund:
Wenn sich jemand von uns auf eine Arbeitsstelle bewirbt, achtet er darauf, dass sich im Lebenslauf ein Lebens- und Berufsabschnitt an den anderen anfügt.
Es muss ein roter Faden in der Biographie zu erkennen sein.
Brüche, z.B. plötzliche Berufswechsel oder abgebrochene Studiengänge oder angebrochene Ausbildungen machen sich nicht gut.
Brüche vermitteln den Eindruck, dass der Bewerber wechselhaft ist und Dinge nicht zu Ende bringt.
Ein beruflicher Lebenslauf muss Festigkeit, Verlässlichkeit und Verbindlichkeit vermitteln.
Dies signalisiert einem Arbeitgeber, dass der Bewerber konsequent, zielstrebig und vertrauenswürdig bei der Sache sein wird.
Ein Arbeitgeber muss sich auf seinen Angestellten verlassen können.
Solch ein Typ war Simon nicht gerade: Er war nicht der Typ, der abwog und überlegt handelte, sondern überholte sich gerne selbst rechts, war entweder tollkühn oder voller Furcht.
Wenn Jesus Simon genauso bewertet hätte wie ein Arbeitgeber einen Bewerber, hätte er ihn zweifellos nicht zum Felsen, zum Petrus berufen.

Aber Jesus bewertete ihn nicht in dieser Weise. Er hatte etwas anderes im Blick:
Simon war ein Mensch, der sich in Bewegung setzten ließ.
Alle anderen Jünger blieben im Boot, Simon stieg aus.
Simon war kein fester, unnachgiebiger Granitfelsen.
Er war ein Rolling Stone – ein rollender Stein, er ließ sich von etwas bewegen.
Jesus weiß die Rolling Stones unter den Menschen wertzuschätzen.
Rolling Stones sind Menschen, die neugierig und beweglich genug sind. Dass sich der Glaube in ihnen verwurzeln kann.
Und so ist die große Glaubenserfahrung dieser Sturmnacht nicht, dass Simon wider alle Natur übers Wasser lief.
Die große Glaubenserfahrung war diejenige, dass Simon, Hilfe von Jesus bekam, als ihn aller Mut verließ.
Nur Menschen, die sich in Bewegung setzen lassen, machen solche Erfahrungen. Sie erleben das Leben wirklich.
In dieser Hinsicht haben Menschen mit ADHS einen Vorteil.
Sie teilen die Rolling-Stone-Eigenschaften von Petrus:
Sie haben eine natürliche Neigung, sich auf das Leben wirklich einzulassen.
Es heißt, unter den Neugierigen dieser Welt, Leuten, die ähnlich gestrickt sind wie Simon, gibt es viele Menschen mit ADHS.
Und das ist gut. Es ist eine große Gabe.
Doch wie schätzen wir uns selbst ein? Wir tendieren dazu, unser Leben im Blick auf unsere Mängel und Defizite anzusehen.
So als befänden wir uns in einem ständigen Bewerbungsgespräch und rechneten damit, dass uns jemand aufgrund unserer Defizite ablehnt.
Darüber verlieren wir aus dem Blick, dass diese Mängel in Verbindung mit besonderen Gaben stehen.
Simon war sprunghaft, impulsiv, mutwillig.
Und er war neugierig und leidenschaftlich – ein Mensch, der sich in Bewegung setzen ließ.
Ich bin überzeugt, Jesus hatte diese Fähigkeiten erkannt und ihnen solch großen Wert beigemessen, dass Simon für ihn ein Fels wurde.
Die Geschichte dieser Nacht ist eine Glaubensgeschichte. Und es ist eine Geschichte der Wertschätzung.
Die Tiefe der Geschichte lässt sich zugegebenermaßen nur im Glauben ergreifen.
Doch möchte ich Sie eines wissen lassen, gleichgültig ob oder in wie weit für Sie der christliche Glaube eine Rolle in Ihrem Leben spielt: Sie können von der besonderen Beziehung zwischen Jesus und Simon lernen.
Achten Sie Ihre Fähigkeiten. Schätzen Sie sie Wert.
Jeder von uns hat Mängel und Defizite. Nur bei Menschen mit ADHS sind sie sehr offensichtlich.
Deshalb neigen wir dazu, diesen Mängeln viel Platz in unserem Leben einzuräumen.
Aber das ist nur ein Teil unseres Lebens.
Der andere Teil sind Gaben, Möglichkeiten und Chancen.

Als Jesus den sinkenden Petrus aus den Wellen emporzog, zog er auch die Möglichkeiten und Fähigkeiten, die er an Petrus erkannte, mit empor.
Es war für Simon Petrus zweifellos sehr schmerzlich, sich selbst derartig scheitern erleben zu müssen.
Aber Jesus ließ ihn dort nicht. Indem er ihm half, hinderte er die Wellen des Selbstzweifels über ihm zusammenzubrechen.
Weil er wusste, was er an Simon Petrus hatte und es wertschätzte.

Jesus hatte in Simon vor allen Dingen einen vielversprechenden Menschen vor Augen.
Einen Menschen mit offensichtlichen Mängeln und einen Menschen mit großen Möglichkeiten.
„Die Stärke eines Menschen zeigt sich in der Blöße, die er sich selber gibt.“ (Elazar Ben Yoetz).
Simon zeigt viel Blöße und gerade deshalb konnte Jesus etwas mit ihm anfangen.
Simon war ein Menschen, den er von ganzem Herzen achtete und wertschätzte und den er deswegen nicht dem Sturm aus Angst und Wellen überließ.
Ich wünsche uns sehr, dass wir diese Wertschätzung finden und sie weitergeben können.

Jakobsweg

Andacht vom 29.4.2012
Mitgliederversammlung Böblingen

Die Helden aus der Bibel bieten wunderbare Gelegenheiten, um an ihre Geschichten anzuknüpfen. Bestimmten Personen fühle ich mich besonders nahe. Sie spiegeln etwas von mir, und ich erkenne mich in ihnen wieder. Eine meine Lieblingsgestalten ist Jakob. Seine Leben zeigt, wie Gott auf krummen Linien eine Segensgeschichte schreibt. Das ist ungemein herausfordernd und ermutigend. Als jemand, der von ADHS betroffen ist, habe ich – wie viele andere – die Erfahrung gemacht, dass mein Leben nicht in direkter Linie von einem zum anderen Ort führt. Wie bei Jakob. Er ist eine der widersprüchlichsten, widerspenstigsten, sozusagen kurvenreichsten Figuren der Bibel. Deshalb fasziniert er mich.

Die Widerspenstigkeit lag Jakob bereits in der Wiege. Er hatte einen älteren Zwillingsbruder, Esau. Esau würde, weil er der Erstgeborene war, das Erbe zufallen. Er würde das Oberhaupt der Familie werden und den Erstgeburtssegen erhalten.
Jakob jedoch konnte es nicht ertragen, hinter Esau der Zweite zu sein. Dieser Gedanken setzte sich in ihm fest, hatte sich gleichsam in ihn festgeschraubt. Er wollte nicht hinter seinem älteren Bruder zurückstehen. Er wollte den Erstgeburtssegen.
Um sich durchsetzen, ging er bis zum Äußeren. Er entschloss sich, den Segen durch Betrug zu bekommen. Das war kein Kavaliersdelikt. Der Segen war heilig und einmalig. Er konnte nur einmal ausgesprochen werden, so wie ein Erbe nicht zweimal verteilt werden kann.
Aber Jakob blieb unbeirrbar und eigensinnig: Als Isaak, der Vater von Jakob und Esau wusste, dass er bald sterben würde, beschloss er Esau zu segnen. Isaak war krank und blind und das nutzte Jakob aus. Er verstellte sich, tat so, als wäre er Esau und erhielt den Erstgeburtssegen des Vaters.

Bemerkenswerterweise empfand er den Segen, nachdem er ihn erhalten hatte, nicht als Gewinn. Im Gegenteil. Plötzlich stellte sich Ernüchterung ein. Jakob wurde sich der Konsequenzen dessen bewusst, was er getan hatte. Er hatte seinen Vater und seinen Bruder hintergangen und zwar in einer Weise, die sich nicht gut machen ließ durch ein einfaches „Entschuldigung! Ich bin ein bisschen zu weit gegangen.“ Seine Widerspenstigkeit und sein Widerspruchsgeist, von denen er sich so sehr hatte herausfordern lassen, verursachte eine dramatische Lage. Und dies nicht nur für ihn: Seine Familie zerriss. Er musste vor der Rache seine Bruders fliehen. Die Schuld durch den Betrug war eine Last, die er nicht mehr abschütteln konnte. Der Segen, den er so sehr begehrt hatte, war ihm zum Fluch geworden.

Der erste Anknüpfungspunkt – verzerrte Ziele. Man gibt sich auf Biegen und Brechen einem Begehren hin und unterschätzt in seiner Unbeirrbarkeit die Gefahr, dass tatsächlich etwas zu Bruch gehen könnte.

Thomas Alva Edison, einer der berühmten Menschen mit ADHS, zerstritt sich mit einem Konkurrenten derart, dass aus seinem verbissenen Bemühen seinen Gegner in die Knie zu zwingen, eine barbarische Erfindung hervorging. Edison wollte zeigen, dass die Stromart, die sein Konkurrent einsetzte, lebensgefährlich für den Menschen war. Er bewies es, indem er ein Hinrichtungsgerät erfand, das mit diesem Strom betrieben wurde: Der elektrische Stuhl.

Sich einem verzerrten und verzehrendem Ziel hingegeben, das ist Jakob widerfahren und das bestimmte von nun an sein Leben. Es ließ ihn zum beständig Flüchtenden werden. Eine Flucht, die sich zum Teil ihre Ursache in der Rache seines Bruders hatte. Zum Teil aber floh er aber auch, weil er nicht ertrug, was er Esau und seinem Vater angetan hatte. Die große Lektion, die Gott Jakob zumutete, bestand darin, dass Jakob in eine Situation geriet, der er nicht durch Flucht entrinnen konnte. Eines Tages würde er sich dem stellen müssen, was er getan hatte. Doch bis zu diesem Zeitpunkt irrte und wirrte Jakob durchs Leben. Er heiratete zweimal, einmal sozusagen aus Versehen. Sein schlitzohriger Onkel Laban lässt ihn die eigene Medizin schmecken und trickst ihn nach Strich und Faden aus. Der Segen, nach dem ihm so verlangt hatte, wäre Jakob am liebsten wieder losgeworden, weil ihn das Gewissen plagte und er Angst vor Esau hatte.

Der zweite Anknüpfungspunkt: Das Sich-In-Krummen-Linien-Fortbewegen, das Hakenschlagen und In-Unmögliche-Situationen-Geraten ist etwas typisch ADSlerisches. Uns sitzt der Aberwitz im Nacken. Wenn wieder etwas geschah, das alles durcheinander brachte, möchten wir ihn am liebsten lossein: Aus einer Beziehung in die nächste getaumelt, die eigenartigerweise der ersten in vielen Zügen ähnelt. Beim neuen Arbeitsplatz zeichnet sich dasselbe Malheur ab wie beim letzten. Es ist verhext, enttäuschend, ermüdend. Es liegt am komischen ADS-Schicksal. Der Aberwitz reizt und schüttelt einen, lässt sich aber nicht abschütteln. Wie bei Jakob: Er konnte machen, was er wollte: Sich selbst wurde er einfach nicht los, trotz der Haken, Listen und Kniffe die er anwendete.

Und dann kam das Ende. Jakob musste seinem Bruder gegenübertreten. Es gab keine Ausflucht mehr. Jakob war mittlerweile ein wohlhabender Mann geworden, ein Familienoberhaupt mit vielen Kindern. Der Unglückssegen hatte sich erfüllt.

Aber auch Esau war Herr über eine mächtige Sippe geworden. 400 wehrfähige Männer gehörten zu seinem Gefolge und mit diesem kam er Jakob entgegen. Am Fluss Jabbok würden sie einander begegnen. Jakob würde büßen für seinen Betrug. Doch – und das war das Schlimme – nicht nur er, sondern auch seine Familie. In der Nacht vor der Begegnung fand Jakob keine Ruhe. Er verließ das Lager, um ans Ufer des Jabbok zu gehen. Dort traf er auf Gott. Und mit Gott traf er auf all das, dem er Zeit seines Lebens ausgewichen war.
In der Bibel heißt es, Jakob und Gott rangen miteinander und als der Morgen anbrach, ließ Gott sich von Jakob überwältigen. „Segne mich!“, verlangte Jakob von Gott bevor er ihn gehen ließ. „Segne mich und ich lasse dich.“ Dieser ungewöhnliche Siegespreis zeigt, dass es nicht um Gewinner und Verlierer in einem Ringkampf geht. Jakob wusste, dass ihm ein Kampf bevorstand, den er nicht gewinnen konnte. Gegen Esau würde er unterliegen. Ohne den Segen Gottes wollte er nicht ins Unausweichliche gehen. Aber er musste um den Segen kämpfen.

Der dritte Anknüpfungspunkt:: Was groß und segensreich ist, lässt sich nur ergreifen, wenn wir darum ringen. Segen ist nicht das gleiche wie Glück. Glück fällt uns zu, Segen kostet. Die Bibel erzählt, dass Jakob von diesem Kampf eine Verletzung an der Hüfte davontrug. Seit der Nacht am Jabbok hinkte er. Dieses Hinken macht deutlich, wie viel Segen kosten kann.

Dieser Punkt ist mir der wichtigste. Ich bin überzeugt, dass jeder von Ihnen ein Segensträger ist. Ich bin überzeugt, dass jeder von Ihnen eine einmalige, große Begabung in sich trägt. Als Menschen mit ADHS wissen wir, wie schwer es ist, an diese Begabung heranzukommen. Sie liegt tief verborgen unter einem Berg unglücklicher Erfahrungen, eines gestauchten Selbstbewusstseins, eines kurven- und hindernisreichen Lebenswegs. Im Unterschied zu Jakob hinken wir schon vorher und würden am liebsten all das abschütteln, was das ADHS mit sich bringt. Dennoch bin ich überzeugt, dass jeder von Ihnen ein Segensträger ist, nicht trotz, sondern wegen Ihres ADHS. Und so, wie sich der Segen Jakobs erst entfaltete, als er darum rang, so sage ich Ihnen zu, dass es sich lohnt, um Ihren Segen zu ringen. Wenn ich früher sehr zerrissen, sehr erschöpft und entmutigt war, las ich einen wunderbaren Text von Martin Luther King:

„Wenn unsere Tage verdunkelt sind
und unsere Nächte finsterer als tausend Mitternächte,
so wollen wir stets daran denken,
dass es in der Welt eine große, segnende Kraft gibt, die Gott heißt.
Gott kann Wege aus der Ausweglosigkeit weisen.
Er will das dunkle Gestern
in ein helles Morgen verwandeln –
Zuletzt in den leuchtenden Morgen der Ewigkeit.“

Diese wunderbaren Worte habe ich immer in meiner Brieftasche bei mir. Sie geben mir viel Kraft und im wahrsten Sinn notwendige Zuversicht, mich nicht gänzlich der Erschöpfung und Enttäuschung hinzugeben. Mein Leben vollzog sich deswegen nicht in weniger kurvenreichen Bahnen. Aber der große, segnende Bogen Gottes umschließt mich.


Zum Schluss will ich Ihnen noch kurz erzählen, was aus Jakob wurde, nachdem er nach seinem Kampf am Jabbok in die aufgehende Sonne davonhumpelte.

Am nächsten Tag begegnete er seinem Bruder. Esau lief ihm entgegen, aber nicht um sich an ihm zu rächen, sondern um sich mit ihm zu versöhnen. Esau hatte nie vorgehabt, sich Genugtuung zu verschaffen. Er wollte den Riss zwischen ihm und Jakob schließen. Das zweite, was mit Jakob geschah, war, dass er mit dem Segen auch einen neuen Namen erhielt, einen Segensnamen gewissermaßen. Dieser Name ins Deutsche übersetzt, hat die Bedeutung „Du hast mit Gott gekämpft und mit Menschen“. Auf Hebräisch lautet er „Israel“.

Jakob, der Widerspenstige, Hakenschlagende und Hinkende setzte den Anfang einer großen, einmaligen Geschichte.

Vertrauen auch Sie Ihren Gaben, so verborgen sie auch liegen. Vertrauen Sie Ihrer Geschichte. Sie wird, allem Hinken zum Trotz, umschlossen vom großen Segensbogen Gottes.

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