Samstag, 29. September 2012

...

Die Hellsicht des Zwiespaltes
Infoabend über ADHS
am 27.9.2012

I. Teil S. 1-7
Warum dieser Titel? S. 1
Was ist ADHS? S. 2
Die Ursache von ADHS S. 5
Wie fühlen sich Menschen mit ADHS? S. 6

II. Teil S. 8-12
Welche guten Anlagen verbergen sich bei Menschen mit ADHS? S. 8
Warum ist heute so oft die Rede von ADHS? S. 10


Teil I

Warum dieser Titel?
Menschen mit ADHS haben eine besondere Wahrnehmung. Man traut ihnen aufgrund ihrer Unaufmerksamkeit und Nachlässigkeit wenig zu. Mir geht es darum, zu zeigen, dass die Wahrnehmung von Menschen mit ADHS auch ein großer Gewinn sein kann. Betroffene sind nicht nur Menschen mit einer Störung, sondern auch Menschen mit Gaben. Aber sie müssen sich, um dieses Ziel zu erreichen, ihren problematischen Seiten stellen. Dann gelangen sie auf die Gabenseite ihres ADHSseins. Der erste Schritt auf dieses Ziel zu ist Information. „Die wirksamste psychologische Intervention ist die Aufklärung.“ 1Dass Sie hier sind, macht deutlich, dass Sie den ersten, grundsätzlichen Schritt getan haben: Sie wollen etwas über ADHS wissen. Vielleicht weil Sie jemanden kennen, der es hat oder haben könnte. Vielleicht weil Sie sich fragen, selbst davon betroffen zu sein. Aus welchem Grund auch immer, Sie gehen in die richtige Richtung und dafür möchte ich Ihnen danken.
Man sieht bei Betroffenen zunächst deren Defizite. Z.B. im Fall dieser Persönlichkeit: „Er hatte schon früh den Ruf eines etwas sonderbaren Mannes. Meist schien er tief in Gedanken versunken zu sein. Immer wieder erwähnen Zeitgenosse seine sprichwörtliche Zerstreutheit … Was sein Äußeres betraf, so lachte man im Freundeskreis darüber und schalt ihn seiner vernachlässigten Kleidung und seiner ungepflegten, struppigen Haare wegen. Ebenso auffällig schien seine Gang: Entweder stolperte er oder er kam so zögernd daher, als habe er etwas verloren. … Seine Lehrer rühmten zwar seine Intelligenz, entrüsteten sich aber über seine Art zu lernen … ja sogar die Ortografie und Interpunktion beherrschte der sonst sprachgewandte Schüler nur sehr mangelhaft. Seine Studien brach er dann auch vorzeitig ab.“ 2 Man kann anhand dieser Beschreibung mehrere typische Erscheinungen des ADHS erkennen: Unaufmerksamkeit, eine Lese- Rechtschreibeschwäche, die gelegentlich in Verbindung mit ADHS auftritt und fehlendes Durchhaltevermögen. Trotzdem entwickeln solche Menschen besondere Fähigkeiten und tragen besondere Talente in sich. Die Persönlichkeit, die oben beschrieben wurde, war Heinrich Pestalozzi, einer der bedeutendsten Pädagogen Europas.


Was ist ADHS?
„Um mit dem Problem ADHS umgehen zu können, muss man verstehen, dass dem ADHS eine besondere neurobiologische Funktionslage des Gehirns zugrunde liegt.“3 Damit ist gemeint, dass Menschen mit ADHS „anders verdrahtet“ (Lynn Weiss) sind als Menschen ohne ADHS. Dieses Anders-Verdrahtetsein zeigt sich auf vielfältige und unterschiedlich ausgeprägte Weise. Im Folgenden zeige ich Ihnen diese Vielfalt auf. Die unterschiedlichen Farben, die Sie auf der Flipchart sehen, bezeichnen unterschiedliche Ebenen, auf denen sich das ADHS bemerkbar macht:

ADHS kommt in drei Betroffenheitsgraden vor:
Eckart von Hirschhausen erkennt an sich eine milde Form des ADHS.4
Hermann Hesse hatte ein stärker ausgeprägtes ADHS; man würde es heute als behandlungsbedürftig einstufen.5
Edgar Allan Poe litt unter starkem ADHS. Es brachte eine Suchterkrankung mit sich – eine häufige Begleiterkrankung –, die ihn schließlich sein Leben kostete.6

ADHS erscheint in unterschiedlichen Variationen:
- Hyperkinetisches Syndrom (Zappelphilipp)
- Hypokinetisches Syndrom (Träumer- oder Hans-Guck-in-die-Luft-Variante)
- Stark strukturierendes ADHS7
- ADHS ohne Aufmerksamkeitsdefizit mit fehlender Impulskontrolle
Man kann, allgemein gesagt, ADHS in zwei Weisen einteilen: Die extrovertierten Variationen (hyperkinetisches Syndrom und ADHS ohne Aufmerksamkeitsdefizit mit fehlender Impulskontrolle) und die eher introvertierten Variationen (hypokinetisches Syndrom und stark strukturiertes ADHS). Es ist öfters die Rede von den extrovertierten Erscheinungsweisen, vor allen Dingen von hyperaktiven Das hypokinetisches Syndrom, die Träumer-Variante fällt häufig nicht auf. Betroffene Kinder – öfters Mädchen als Jungen – werden meistens unterschätzt und gelten nicht selten als zurückgeblieben, insbesondere wenn ebenfalls eine Teilleistungsstörung festgestellt wird. Das ist in der Regel eine Fehleinschätzung, die den Fähigkeiten und der Intelligenz der betroffenen Menschen nicht gerecht wird. Jede einzelne Variation verdiente es, für sich in Augenschein genommen zu werden. Das würde allerdings den zeitlichen Rahmen des heutigen Abends sprengen. Auf der Seite des Bundesverbandes ADHS-Deutschland gibt es unter der Rubrik ADHS/ ADS eine Information speziell für Betroffene mit hypokinetischem Syndrom. Diese Information stammt von Dr. Helga Simchen. Sie ist die führende Spezialistin für ADS in Deutschland. Die verschiedenen Variationen des ADHS zeigen einerseits die Bandbreite des ADHS, andererseits die Schwierigkeit, es in einem Begriff zu fassen. Zumal sich seine Erscheinungsweisen, die Symptome, im Lauf des Lebens verändert. ADHS ist im wahrsten Sinn des Wortes mehrdeutig und zwiespältig.

Kinder mit ADHS
ADHS zeigt sich schon im Säuglingsalter. Oft schreien diese Kinder sehr viel, sind reizbar und quengelig. Anders allerdings bei Babys mit ADS. Sie sind eher pflegeleicht, unauffällig und ruhig.
Das Trotzalter ist stärker ausgeprägt. Hyperkinetische Kinder haben einen sehr hohen Bewegungsdrang. Ihre innere Unruhe kommt darin zum Ausdruck. Bei hypokinetischen Kindern zeigen sich zum ersten Mal Anzeichen des ADS: Sie sind still und abwesend, unaufmerksam und verträumt.
Im Kindergarten- und Schulalter kommt es in der Regel zu deutlichen Krisen. Die Kinder können nicht still sitzen, sind launisch, cholerisch, vergesslich und haben nicht selten Probleme mit der Sauberkeit und dem Sprechen. Auch hier fallen die ADS-betroffenen Kinder weniger auf, weil sie introvertiert sind und sich mit sich selbst beschäftigen. Große Gruppen oder Klassen sind für beide, ADHS- und ADS-Kinder anstrengend. Zu viele Reize strömen auf sie ein, die sie nicht ausfiltern können. Sie reagieren je nach Ausprägung unterschiedlich. Entweder drehen sie auf oder ziehen sich zurück. Im Kindergarten bzw. in der Schule kommt deutlich die wirkliche Natur des ADHS zum Ausdruck. Es ist nicht in erster Linie ein Aufmerksamkeitsdefizit, sondern eine Schwäche der Selbststeuerung. Auf ADHS-Betroffene stürzen alle Reize zur gleichen Zeit ein. Sie können sie nur unter großen Anstrengungen oder gar nicht steuern. Der Grund liegt in der Neurobiologie ihres Gehirns. Äußerlich zeigt sich die Reizoffenheit bzw. Reizübersensibiliät als Unaufmerksamkeit, Zerstreutheit, fehlende Impulskontrolle und Stimmungsschwankungen. Die klassische Darstellung von ADHS bei Kindern bietet übrigens der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann. In den Geschichten des Buchs entdeckt man sämtliche Symptome.

Jugendliche mit ADHS
Jugendliche mit ADHS entwickeln sich oft später als andere. Sie wirken für ihr Alter jünger bzw. kindlicher. Die Merkmale der Pubertät treten stärker zu Tage (Widerspruchsgeist, oppositionelles Verhalten, starke Launenhaftigkeit, Depressivität bis hin zur Selbstmordgefährdung). Die Familien sind in dieser Zeit oft über ihre Kräfte beansprucht. Die Reaktionen der Jugendlichen sind sehr widersprüchlich, gelegentlich regelrecht bizarr und nicht nachvollziehbar. Leider auch für die Betroffenen selbst. Während der Pubertät kommt es zu großen Veränderungen im Gehirn. Durch diese Veränderung wird der Gehirnstoffwechsel häufig ausgeglichen, so dass ADHS verschwindet. Bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung bleibt ADHS aber erhalten. In der Pubertät zeigt sich ADHS meist in Form einer Begleiterkrankung (Essstörung, Zwangs- und Angsterkrankungen, Depression, Suchtverhalten u.a.). Je früher eine Therapie einsetzt, desto besser können diese Begleiterkrankungen vermieden werden. Insbesondere Sucht stellt eine große Gefährdung für den Jugendlichen dar (Kiffen, Alkohol, Nikotin, PC-Sucht u.a.). Zugleich aber können in dieser Phase deutlich die besonderen Begabungen wahrgenommen werden.

Erwachsene mit ADHS
Zwischen 5 und 7%8 der Kinder einer Bevölkerung sind von ADHS betroffen. Es verliert sich nicht im Erwachsenenalter, sondern bleibt bei ca. 1 – 5% der Bevölkerung erhalten. Bezogen auf die Betroffenen selbst heißt das, dass zwischen 30 und 70% der Menschen mit ADHS lebenslang damit zu tun haben.9 Im Erwachsenenalter ändern sich die Symptome. Sie treten – wie bei Jugendlichen - in den Hintergrund, weil das ADHS von Begleiterkrankungen überlagert wird. Die häufigste Begleiterkrankung ist die Depression. Ursachen für Depressionen sind einerseits im Gehirnstoffwechsel zu suchen, andererseits aber auch, weil Menschen mit ADHS ein gebrochenes Selbstwertgefühl entwickeln. Sie scheitern an vielem, was andere scheinbar ohne Probleme bewältigen. Darüber hinaus muss sich ein Betroffener mehr anstrengend, um seinen Alltag zu regeln. Menschen mit ADS ziehen sich häufig zurück und verkümmern in dem Bewusstsein, nichts zu erreichen und ständig anzustoßen. Menschen mit ADHS haben Schwierigkeiten insbesondere, das Leben zu organisieren und Arbeiten zu Ende zu bringen, Zeiten einzuhalten, im Arbeitsverhältnis angepasst zu reagieren und die persönlichen Verhältnisse zu ordnen. Aus dem hyperaktiven Schüler wird der nervöse, fingertrommelnde Erwachsene, der keine Arbeit organisiert und zu Ende bringt, der Charmeur, der keine Beziehung halten kann und der Workaholic, der seine Teampartner durch ständig neue, unfertige Ideen zur Verzweiflung treibt.“10 Skrodzki, a.a.O., S. 31.
Diese inneren Spannungen rufen neben den Depressionen auch Angststörungen hervor und die bereits genannten Suchterkrankungen.11 oder Zwangserkrankungen.12 Die ganze Bandbreite der Symptome lässt sich nicht in dieser Information nicht darstellen, dafür reicht die Zeit nicht.
Auf der Seite des Bundesverbandes ADHS-Deutschland (www.adhs-deutschland.de) jedoch kann man sich über die Erscheinungsweisen von ADHS in den verschiedenen Lebensaltern informieren.
Hier ein Einblick in die Symptome, die allen drei Lebensphasen gemein sind:
Stimmungsschwankungen (Affektlabilität), in der Regel Zerstreutheit und Unaufmerksamkeit, desorganisiertes Verhalten (Unordnung, fehlendes Zeitgefühl u.a.m.), Übererregbarkeit, Intoleranz gegen Langeweile (Menschen mit ADHS mögen Abwechslung und lieben „Kicks“, aber sie brauchen sie auch).


Die Ursache von ADHS
ADHS hat es immer schon gegeben. Es ist keine Modeerkrankung. hat eine starke genetische Disposition. D.h. es wird vererbt. Alkohol und Zigarettenkonsum in der Schwangerschaft können allerdings ebenfalls ADHS hervorrufen. In der Regel entdeckt man in einer Familie mehrere Angehörige, die Züge des ADHS haben. ADHS ist nicht grundsätzlich als Behinderung zu betrachten, sondern nur wenn die Dauer und Heftigkeit der Symptome das tägliche Leben beeinträchtigen.13 Neben der Vererbung spielen auch Umweltfaktoren eine entscheidende Bedeutung. Früher hat man ADHS ausschließlich durch den Einfluss äußerer Umstände erklärt, z.B. mit verfehlter Erziehung. Diese Betrachtungsweise ist einseitig, nicht selten ideologisch geprägt und führt in die falsche Richtung.Richtig ist stattdessen, dass ADHS eine genetisch bedingte, neurobiologische Besonderheit des Gehirnstoffwechsels darstellt. Die Bedingungen, in denen Menschen mit ADHS leben, fördern die Symptome.

Wie fühlen sich Menschen mit ADHS?
Betroffene merken früh, dass sie anders sind als andere. In der Regel merken sie es im Kindergarten- und Schulalter, wenn sie aus der Familie in eine größere Gruppe kommen. Dort wird von ihnen Aufmerksamkeit und das Einhalten von Regeln erwartet. Weil es ihnen nicht gelingt, ecken sie an oder stoßen auf Widerstand und Ärger. Viele Kinder entwickeln bereits in diesem Alter ein geknicktes Selbstwertgefühl. Sie sagen: „Ich bin ungezogen und dumm, weil die anderen mich für ungezogen und dumm halten.“ Wenn sie zudem von einer Teilleistungsstörung betroffen sind oder einem Tic, verstärkt sich dieser Eindruck. Eltern von Kindern mit ADHS geraten zunehmend in Verunsicherung. Sie halten sich für unfähig, ungeduldig und hilflos. Häufig wird dieser Eindruck von anderen verstärkt. ADHS bei einem Kind ruft immer Unsicherheit und Hilflosigkeit hervor. Die Unaufmerksamkeit, Unzuverlässigkeit oder Impulsivität führen alle an ihre Grenzen, sowohl die Kinder, wie die Eltern und die Pädagogen. Deshalb ist eine frühe Therapie von entscheidender Bedeutung.

Bei Jugendlichen verstärkt die Pubertät die Symptome des ADHS (bzw. umgekehrt, das ADHS verstärkt die Pubertät). Manche Betroffene kommen durchaus gut durch diese Lebensphase. Aber viele von ihnen (und deren Angehörige) müssen Kämpfe aushalten. Die möglichen Schwierigkeiten während der Pubertät lesen sich wie die Nebenwirkungen auf einem Beipackzettel.Ich will sie deshalb gar nicht im Einzelnen ausführen. Doch zu ihnen gehören extreme Stimmungsschwankungen, oppositionelles Verhalten, starke Impulsivität, Drogenmissbrauch, dissoziales Verhalten.
Auch Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Essstörungen können auftreten.14 Der Bundesverband ADHS-Deutschland hat speziell für dieses herausfordernde Alter eine E-Mail-Beratung ins Leben gerufen, bei der sich Jugendliche an Jugendliche wenden können. Je besser Jugendliche in dieser Zeit eingebettet sind in eine größere Gemeinschaft als die Familie, desto besser können sie sich entwickeln und entfalten. Die Bedeutung einer Jugendarbeit in der Gemeinde kann nicht hoch genug eingeschätzt werden in diesem Zusammenhang. Sinnvoll ist es für Eltern mit ADHS-Kindern eine Gesprächs- oder Selbsthilfegruppe aufzusuchen. Allein der Umstand, dass man sich den gleichen Herausforderungen stellen muss, ist schon eine große Hilfe. Vor allem während der Pubertät ist ein verlässliches Umfeld sehr wichtig für die Jugendlichen und deren Eltern.

Im Erwachsenenalter treten die primären ADHS-Symptome in den Hintergrund bzw. sie bekommen einen anderen Charakter. Die Zeit- und Arbeitsorganisation ist unzureichend, es klappt nicht mit den Beziehungen, die motorische Unruhe wird zur inneren Unruhe, zur steppenwölfischen Getriebenheit, die Unsicherheit, die das ganze Leben prägt, verstärkt sich und wird zur Depression.
Begleiterkrankungen wie Depressionen stehen in der Regel im Vordergrund: Vom Burn-Out bis zur Kaufsucht, von Adipositas (Übergewicht) bis zu Panikattacken. Zuerst müssen die akuten Begleiterkrankungen behandelt werden, bevor man sich dem ADHS zuwendet. Allerdings unterscheidet sich die Behandlung eines ADHS-Betroffenen von der eines Erkrankten ohne ADHS. Eine Psychoanalyse etwa ist sicherlich förderlich. Das Mittel erster Wahl ist sie jedoch nicht.
Bemerkenswert ist, dass, wenn ein ADHS entdeckt und medikamentös behandelt wird, stellt sich sehr oft eine enorme Verbesserung der Lebensqualität ein. Man kann sich plötzlich besser konzentrieren und ist dadurch entspannter. Man reagiert seltener cholerisch oder überempfindlich und wirkt ausgeglichener. Haushalt und Beruf lassen sich besser bewältigen und kann so dem Gefühl entkommen, beständig zu scheitern. Die Gabe von Medikamenten ist das Mittel erster Wahl. Ein Allheilmittel ist es jedoch nicht. Als Faustregel für den Einsatz von Medikamenten gilt: „Der Einsatz von Medikamenten ist nicht zwingend erforderlich, aber in vielen Fällen wünschenswert und in wenigen unumgänglich“15
Wesentlich für Menschen mit ADHS ist, dass sie sich Helfer und Begleiter suchen (Coaching) und einen Rahmen finden, in dem sie mit ihren ADHS-Seiten gut weiterkommen. Dies gilt insbesondere für den Beruf. Das schließlich führt mich zum letzten Teil des Informationsabends: Er beschäftigt sich mit zwei Fragen: Welche guten Anlagen verbergen sich im ADHS? Warum ist heute von ADHS so oft die Rede?



II. Teil

Welche guten Anlagen verbergen sich bei Menschen mit ADHS?
Das Einzigartige und Besondere an der Betroffenheit von ADHS ist, dass es nicht nur Nachteile hat. Menschen mit ADHS können großartige Dinge hervorbringen. Ihre Art an die Welt heranzugehen, kann eine große Bereicherung bedeuten. In bestimmten Situationen können sie geradezu brillante, innovative Einfälle haben. Sie ahnen, dass etwas in ihnen steckt, aber sie stolpern über ihre Defizite und können ihre Begabungen nicht erreichen. Betroffene erleben sich im Zwiespalt: Sie wissen, dass sie anders sind, ohne sagen zu können, was anders an ihnen ist. Diese Zwiespältigkeit, diese „andere Art die Welt zu sehen“ (Thom Hartmann), lässt sie eine Perspektive einnehmen, die ihnen andere Einsichten gewährt. Und tatsächlich findet man unter Künstlern, Wissenschaftlern und Erfindern nicht wenige, die ADHS-Symptome zeigen und vermuten lassen, davon betroffen gewesen zu sein. Man glaubt bei Mozart, Einstein und Franklin Merkmale von ADHS entdecken zu können, ebenso bei Astrid Lindgren, der wunderbaren Dichterin Emily Dickinson und Edgar Allan Poe. Persönlichkeiten der Gegenwart wie Dustin Hoffman, Bill Gates oder Whoopie Goldberg sind davon betroffen. Natürlich sind diese Menschen, nur weil sie eine große Begabung in sich trugen oder tragen, nicht deswegen auch glückliche Menschen. ADHS ist beides: Bereicherung und Grenze, Handicap und Gewinn. Die Gaben liegen neben den Beschränkungen. In der folgenden Liste stelle ich den Symptomen des ADHS positive Eigenschaften gegenüber.In diesen Verbindungen tritt ADHS nicht auf. Die Gegenüberstellung soll deutlich machen, dass bei ADHS sowohl mit Herausforderungen und Problemen wie mit sehr gewinnenden Eigenschaften zu rechnen ist. Beides, Gaben und Grenzen sollten im Blick behalten werden. Dieser Blickwinkel hilft, um ADHS anzunehmen, insbesondere, wenn die Symptome alle zu überfordern und erschöpfen drohen.

Unaufmerksamkeit Kreativität/ Einfallsreichtum
Dissoziales Verhalten Gerechtigkeitssinn
Übererregbarkeit/ Nervosität Einfühlungsvermögen/ Sensibilität
Zerstreutheit/ Vergesslichkeit/ Desorganisation Zielstrebigkeit (wenn ein Ziel vorhanden ist)
Stimmungsschwankungen/ Labilität Charisma/ mitreißendes, herausforderndes Wesen
Hyperaktivität Sportlichkeit
Jähzorn und/ oder Depressivität Einladender Charakter
Impulsivität/ Kurzschlussreaktionen Innovatives Querdenken

Menschen mit ADHS muss es gelingen, ihre Gaben zu erreichen.
Dafür müssen sie Verantwortung übernehmen, sowohl für ihre Gabenseite wie für diejenige Seite, die ihnen und anderen Schwierigkeiten bereitet. Natürlich trifft dies auf alle Menschen zu. Aber Menschen mit ADHS sind unmittelbar darauf angewiesen.
Verantwortung ist ein Schlüsselbegriff für den Umgang mit ADHS.
In Bezug auf betroffene Erwachsene schreibt Lynn Weiss: „(d)ie Verantwortung, mit ihrer Situation zurande zu kommen, liegt bei Ihnen.“16 D.h. Erwachsenen mit ADHS müssen begreifen, dass es nicht die Aufgabe ihrer Angehörigen, Freunde, Gemeinde usw. ihre Symptome zu tragen bzw. zu ertragen. Man kann sie als Partner, Freund, Kollege begleiten, helfen und unterstützen. Mit ADHS ins Reine zu kommen, ist Sache des Betroffenen allein.Bei Kindern und Jugendlichen ist das s elbstverständlich etwas anderes. Sie können noch keine Verantwortung für sich übernehmen. Sie müssen es lernen. Das bedeutet für insbesondere für die Eltern sehr oft, Hilf- und Kraftlosigkeit bis hin zur Erschöpfung. Ihnen sei gesagt:
Gehen Sie bewusst mit ADHS um; Ihre Geduld ist stärksten Herausforderungen ausgesetzt. Seien Sie ehrlich zu sich: „Ich liebe mein Kind. Aber es kostet mich auch ungemein viel Kraft. Manchmal habe ich die nicht mehr.“
Suchen Sie sich unbedingt Hilfe. D.h. Menschen die Ihnen gut tun, Fachleute, mit denen Sie sprechen können. Freunde, die Ihnen unter die Arme greifen.
Schweigen Sie nicht. Suchen Sie das Gespräch. Suchen Sie es rechtzeitig und nicht, wenn die Wogen über Ihnen zusammenschlagen. Gehen Sie nach Möglichkeit offen mit Pädagogen um, vermeiden Sie Konfrontationen.
Informieren Sie sich. Aufklärung, nicht Medikamente, ist der erste Schritt, mit ADHS zu Recht zu kommen. Wenn Sie können, suchen Sie sich eine Gesprächsgruppe. Sie sind nicht allein.

Warum ist heute so oft die Rede von ADHS?
Zunächst: ADHS ist eine bekannte Erscheinung, es gibt keine Zunahme des ADHS, der Anteil der Betroffenen ist konstant. Die Zahl der Diagnosen und die Zahl der Behandlungen mit Ritalin, Concerta u.a. nimmt enorm zu, warum? Ich sehe zwei Ursachen dafür: Der erste Grund liegt in der gegenwärtigen Versorgungslage im Hinblick auf ADHS. Es gibt noch nicht ausreichend Spezialisten für ADHS bei Kindern und erst recht für betroffene Erwachsene; das Erwachsenen-ADHS ist in Deutschland erst seit 3 – 4 Jahren als Phänomen anerkannt. Oft werden dann aus Unkenntnis oder mangelnder Zeit für die Diagnose vorschnell Medikamente verschrieben und ADHS attestiert. Wir sind zwar in Deutschland auf einem guten Weg. Aber noch ist es schwierig.Deshalb wird ADHS oft zum Gesprächsthema.
Als zweiten Grund sehe ich folgendes: ADHS eignet sich, um einem diffusen Störungsbild einen Begriff zu geben und es dadurch einzugrenzen. ADHS ist dann nicht Ausdruck einer Störung, sondern es ist Ausdruck von Hilflosigkeit. Gründe für diese Hilflosigkeit sind beispielsweise: Das Ablenkungspotential durch Handys, Smartphones, Konsolen u.a. ist enorm gestiegen. Das Vermögen, mit Widerstandskraft und Flexibilität seinem Alltag zu begegnen (sog. Resilienz) ist gesunken. Das Freizeitverhalten hat sich in den letzten 30 Jahren radikal verändert (Rückgang der Freiräume zum Spielen, Rückgang des Bücherlesens usw.)17 Die zunehmende Desorganisation unserer Arbeits- und Schulwelt ist Grund für zunehmende Überforderung, Unzufriedenheit und Verunsicherung.18 Der wachsenden Verunsicherung geschuldet ist zweifellos auch der Verlust von Werten und Richtlinien. Die Anforderungen wachsen in unserer Leistungsgesellschaft, aber persönliche Grenzen werden vielfach nicht mehr wahrgenommen und respektiert (vgl. Mobbing).
Das ist ein Widerspruch, der Extreme hervorbringt, die gerade Betroffenen sehr zu schaffen machen. Es geht mir nicht um Werte um der Werte willen. Aber Orientierungslosigkeit und Desorganisation verstärken die Symptome des ADHS und verhindern, dass Betroffene ihre guten Seiten ergreifen können. Sie müssen um die Grenzen in ihrem Inneren ringen und sich um Aufmerksamkeit und Ausgeglichenheit bemühen. In einer von Extremen geprägten Umwelt ist das sehr schwer. Was Menschen mit ADHS brauchen, sind Orte und Menschen, wo sie mit Respekt rechnen können. Dieser Ort kann die Gemeinde sein. Diese Menschen können Christen sein. Ich möchte zum Schluss ein Zitat vorlesen, das diesen Gedanken unterstreicht.
Es stammt von Thomas Willis White. Er war der Besitzer einer Zeitung, für die der Dichter Edgar Allan Poe arbeitete. Dieses Zitat zeigt, wie aufrichtiger, christlicher Respekt aussieht. White war ein Christ. Er mochte und schätzte Poe sehr, obwohl Poes Trunksucht, eine Folge seines ADHS, allen, die es mit ihm zu tun hatten, sehr zu schaffen machten. Folgende Zeilen schrieb White an Poe: „Lieber Edgar … Wenn Sie sich nur auf Ihre eigene Kraft verlassen, sind Sie verloren. Bitten Sie Ihren Schöpfer um Hilfe, und sie werden gerettet werden. … Wenn Sie sich dazu entschließen könnten, bei mir oder in einem anderen Privathaus Quartier zu nehmen, wo es keinen Alkohol gibt, gäbe es Hoffnung für Sie. … Sie haben so viel Begabung, Edgar, und Sie sollten sie achten wie sich selbst. Lernen Sie sich selbst achten, und Sie werden bald feststellen, dass Sie geachtet werden.“20
Die Gemeinde und ihre Menschen kann ein Ort sein, wo man geachtet wird, damit Menschen mit ADHS hier lernen, sich selbst zu achten.

Zitate
1 Paul Wender: Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität ADHS bei Erwachsenen, in: Hyperaktivität, hrsg. V. K. Skrodzki u. K. Mertens, Dortmund 2000, S. 65.
2 Klaus Skrodzki, Leben mit Hyperaktivität in Deutschland vor der Jahrtausendwende, in: Ders., Hyperaktivität, a.a.O., S. 10.
3 Wolfdieter Jenett: ADHS, Paderborn 2011, S. 12.
4 Eckart von Hirschhausen: Humor ist, wenn man später kommt, in: Neue Akzente, 91/1/2012, S. 24.
5 Vgl. Detmar Roloff: Hermann Hesse, ein beispielhafter Fall?, in: Bundesverband Aufmerksamkeitsstörung/ Hyperaktivität, Jahrbuch 2002, S. 52ff.Vgl. Detmar Roloff: Hermann Hesse, ein beispielhafter Fall?, in: Bundesverband Aufmerksamkeitsstörung/ Hyperaktivität, Jahrbuch 2002, S. 52ff.
6 Vgl. Uwe Metz: Die Hellsicht des Zwiespaltes, Aachen 2008, S. 35f.
7 Vgl. Lynn Weiss: ADS im Job, 2. Aufl., Moers 2007, S. 18.
8 Vgl. Klaus Skrodzki: Leben mit Hyperaktivität, a.a.O., S. 39
9 Vgl Art.: ADHS
10 Klaus Skrodzki: Leben, a.a.O., S. 31
11 Vgl. Uwe Metz: Hellsicht, a.a.O., S. 15; Martin Ohlmeier: ADHS und Sucht, in: Neue Akzente 83/3/2009, S. 4ff. oder Zwangserkrankungen.
12 Vgl. Paul Wender: Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom a.a.O., S. 53f.
13 Vgl. Uwe Metz: Hellsicht, a.a.O., S. 11; Wolfdieter Jenett, a.a.O., S. 176; Johannes Streiff: Wer ist schon gerne behindert, in: Neue Akzente 88/1/2011, S. 19.
14 Vgl. Helga Simchen: Essstörungen bei Jugendlichen, in: Neue Akzente 87/472010, S. 7ff.
15 Wolfdieter Jenett, a.a.O.,S. 14.
16 Lynn Weiss, zit. in: Uwe Metz, Hellsicht, a.a.O., S. 53).
17 Vgl. Klaus Skrodzki, ADHS – Herausforderung einer Gesellschaft im schnellen Wandel, in: Neue Akzente 91/1/2012, S. 4ff.
18 Vgl. Uwe Metz: Facetten des ADHS, in: Neue Akzente, 88/1/2011, S. 23.
20 Thomas W. White, zit. In: UweMetz, Hellsicht, a.a.O., S. 28f.

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