Über die Einzigartigkeit eines Lebens mit ADHS
Die amerikanische Lyrikerin Emily Dickinson
I felt a cleaving in my mind ...
Was ist das Einzigartige an meinem ADHS-Sein, an dieser besonderen Weise der Wahrnehmung? Diese Fragen beschäftigen mich schon seit vielen Jahren. Sie haben mich zu einem erweiterten Ansatz gebracht, über ADHS nachzudenken, einen Ansatz, der über die Beschäftigung mit ADHS als behandlungsbedürftige Krankheit hinausgeht. Ich nenne ihn, den lebensgeschichtlichen Ansatz.
ADHS tritt in meinem Leben nicht als eine Ansammlung von Symptomen auf, die ich abgrenzen und abgegrenzt wahrnehmen kann. ADHS betrifft mich als ganzes. Es gehört zu mir von Kindheit an und betrifft mich in allem. Deshalb faszinieren mich Menschen, die ebenfalls ADHS in sich trugen.
Was waren es für Menschen und wie lebten sie mit dem, was wir heute ADHS nennen?
Ich möchte Ihnen eine Persönlichkeit vorstellen, von der ich glaube, dass sie wahrscheinlich von ADHS betroffen war: Die amerikanische Dichterin Emily Dickinson. Ich sage deswegen wahrscheinlich, weil, betrachtet man ihr Leben, sehr vieles darauf hindeutet, dass sie von ADHS betroffen waren.
Man darf natürlich nicht den großen zeitlichen Abstand außer Acht lassen - Dickinson lebte im 19. Jahrhundert (1830 – 1886). Doch – wie gesagt - legen manche Hinweise in ihrer Biographie den Schluss nahe, dass sie - bei allem Vorbehalt - von ADHS betroffen gewesen ist.
Ich habe Emily Dickinson ausgewählt, weil sie mich auf den Titel "Die Hellsicht des Zwiespaltes"1 brachte. Ihre Gedichte sprechen vom Zwiespalt, vom Dazwischen-Sein, vom Anschein der Empfindungen und Eindrücke. Sie erschafft Bilder von Dingen, die nur vage wahrnehmbar sind und unsere sicheren Wahrnehmung von den Dingen wie unscharfe Spiegelungen erscheinen lassen. Dies aber tut sie in einer beeindruckenden Klarheit und sprachlicher Ausdruckskraft, die zutiefst bewegt, erfüllt und überzeugt. Dickinson ist die Dichterin des Dazwischens und sie zeigt uns so Details der Wirklichkeit, die wir ohne ihre Worte nicht sehen und begreifen könnten.
Was war sie für ein Mensch? Sie lebte äußerst zurückgezogen, mied Gesellschaft bis auf wenige vertraute Menschen. Sie stammte aus einer hochgebildeten, neuenglischen Familie, calvinistisch-puritanischer Abstammung. Man erkannte früh ihre besondere Begabung und förderte sie. Sie wurde natürlich wie es für die damalige Zeit üblich gemäß des Vorbildes einer höheren Tochter , also auf Haus und Familie erzogen. Aber darüber hinaus erhielt sie auch eine ausgezeichnete Bildung, was mit dem Umstand zusammenhing, dass ihr Großvater das Amherst-College mitgründete, einer Elite-Ausbildungsstätte, dessen Rektor Emily Dickinsons Vater wurde. Die ersten Jahre verbrachte Emily dort, wurde in Latein, Mathematik, Geschichte, Literatur und Sprachen unterwiesen. Mit 17 wechselte sie auf das nicht minder renomierte Mount Holyoke Female Seminary, das sie jedoch nach einem Jahr abbrechen musste. Sie war zwar intelligent, litt aber unter so erheblichen körperlichen und seelischen Beschwerden, dass sie ihr Studium nicht fortsetzen konnte. Körperlich war ihre Konstiution schwach, seelisch litt sie unter einem nervösen, übersensiblen Gemüt und einer Neigung zu Depression. Ein überstarkes Gemütsmerkmal war Dickinsons Zurückgezogenheit und Introvertiertheit. Zeit ihres Lebens hielt sie sich in Amherst, ihrer Geburtsstadt auf. Sie heiratete nie, verließ nur selten ihr Haus und blieb meistens auf ihrem Zimmer, um zu schreiben. Selbst vertraute Personen, mit denen sie in intensiver Brief-Verbindung stand, begegneten ihr selten oder gar nicht. Demgegenüber steht die Weite und Tiefe ihrer Gedichte. In ihrer Vorstellungskraft überschritt sie die engen, selbstgewählten Grenzen ihres Lebens, schuf eine andere Form der Poesie und wurde so zu einer Wegbereiterin der Moderne.
Was lässt sie in die Nähe dessen rücken, das wir heute ADHS nennen und wie wirkte es auf ihr Leben ein? Menschen mit ADHS neigen zu einer oszillierenden, schillernd-unscharfen Wahrnehmung. Offensichtliches erkennen sie nicht, doch sie nehmen beinahe unsichtbare Dinge war, die Menschen ohne ADHS zu übersehen neigen. Ein schönes Beispiel für diese besondere Form der Wahrnehmung finden wir in Dickinsons Gedicht "Bei einem flieh'nden Licht"
Bei einem flieh'nden Licht
wird schärfer das Gesicht
als bei dem Docht, der bleibt.
Des Lichtes Flieh'n verspricht
uns weite klare Sicht -
geschmückt gezeigt.
Das Licht geht, ist unscharf und unklar. Doch eben diese Lichtverhältnisse lassen die Konturen des Gesichts deutlicher hervortreten.
Ein weiteres Merkmal der besonderen ADHS-Wahrnehmung ist, dass sämtliche Reize ungefiltert auf einen Menschen mit ADHS einströmen. Auch davon gibt Dickinsons Werk Zeugnis:
I felt a cleaving in my mind
As if my brain had split;
I tried to match it, seam by seam
But could not make it fit
*
Ich fühl ein Zwischen in meinem Geist
als bräche mein Hirn entzwei.
Ich säumte, nähte, flocht
doch zu fügen vermocht ich nichts.
Emily Dickinsons Weise, dem Ungestüm der Reize zu entgehen, war, sich ganz zurückzuziehen. Das ist typisch für Menschen, die von der hypoaktiven Variante des ADHS, der Träumer-Variante betroffen sind: Sie entziehen sich, verstummen, lassen ihre ausgestreute Gedanken fahren und träumen sich davon. Sie wirken introvertiert und ruhig. Tatsächlich aber sind ihre Sinne und Stimmungen in großer Bewegung, indes einer Bewegung, die sie nicht halten können. Emily Dickinson vermochte diese Bewegung in Worte umzusetzen; Kreativität ist ein auffallend häufiges Merkmal bei Menschen mit ADHS. Es ist so auffallend häufig, dass Kreativität nicht selten als unmittelbares ADHS-Merkmal betrachtet wird. Das aber geht m.E. über das Gebotene hinaus. Jeder Mensch hat Kreativität in sich. Betroffene aber sind zutiefst von ihr abhängig, weil sie ihnen die Möglichkeit gibt, ihrem So-Sein einen Ausdruck zu geben. Nicht ADHS ist die Ursache von Kreativität, sondern die Möglichkeit sich dadurch auszudrücken und zu entfalten.
Dieser Umstand ist der größte Gewinn für einen Menschen mit ADHS. Und tatsächlich ist es kein Zufall, dass unter den innovativen, schöpferischen Geistern zahlreiche Personen mit ADHS sind. Emily Dickinson galt als hochsensibel und neigte zu depressiven Verstimmungen. Ihre Schwester bezeichnete sie als einen Menschen von "zarter" Verfassung. In dieser Umschreibung könnte sich jene für Menschen mit ADHS typische Stimmungs- und Affektlabilität wiederspiegeln. Dass die Dichterin niemals reiste und so gut wir gar nicht ihre bekannte und geordnete Umgebung verließ, scheint auch der Kompensation gedient zu haben: Strenge, ja starre äußere Stabilität wirkte der fehlenden inneren ausgleichend entgegen. Dieser festgefügte Rahmen ließ sich jedoch nicht mehr aufrecht halten, als einige von Emily Dickinsons besonders nahestehende Freunde und Verwandte verstarben, etwa ihre Mutter und ihr Neffe. Ihre ohnehin gebrechliche Verfassung verschlechterte sich zusehends, bis sie schließlich im Mai 1886 verstarb (als Todesursache wurde das "Bright Syndrom" angegeben, ein Nierenleiden, dessen Aussagekraft allerdings umstritten ist, da diese Diagnose zum damaligen Zeitpunkt häufig gestellt wurde).3
Hat sie deswegen ein tragisches Leben gehabt und ist Ursache davon womöglich ADHS? Beide Fragen greifen zu kurz. Dickinson hatte die Möglichkeit, ein Leben ihrer besonderen Verfassung gemäß zu führen. Sie folgte keinen Konventionen, die ihrem Naturel widersprachen- und offenbar brauchte sie dies auch nicht. Sie veröffentlichte zu Lebzeiten nur sieben Gedichte ihres sehr umfangreichen Werkes, was aber nicht Ausdruck dafür ist, dass man ihre Dichtkunst für unbedeutend hielt. Denn in dem kleinen Kreis ihrer Freunde und Vertrauten schätzte man ihre Sprachbegabung und ihre Dichtung überaus. Dickinson litt unter Depressivität und viele ihrer Gedichte thematisieren Tod und Vergänglichkeit. Doch ebenso drücken sie Hoffnung, Schönheit und Vitalität aus. Ein depressiver Mensch muss kein Pessimist sein.
Ich möchte noch einmal, bezogen auf Emily Dickinson die Frage stellen, was ist das Einzigartige am ADHS-Sein, an dieser besonderen Weise der Wahrnehmung? Sie ist bereichernd, insofern man ihr Potential erkennt und sie nicht den Konventionen zum Opfer fallen lässt, mit denen wir umgeben sind. Emily Dickinson scheint diese Freiheit gehabt zu haben. Ihr beinahe exzentrisch zurückgezogenes Lebens, ermöglichte ihr, jenes außergewöhnliche Werk zu schreiben. Menschen mit ADHS faszinieren. Sie beunruhigen, sind zerstreut, getrieben, kraftraubend. Und sie setzen Kräfte frei, sie sind - im wahrsten Sinn des Wortes - tatkräftig bzw. können es sein. Von Emily Dickinsons Werk geht eine große, inspirierende Kraft aus. Dafür brauchen Menschen mit ADHS andere, die ihnen Stand geben und sie lieben. Emily Dickinson hatte Menschen solche Menschen. Freunde, Verwandte und Vertraute, die sie wertschätzten und sie in ihrem So-Sein beließen.
(Der Text geht auf einen Vortrag am 6.12.2014 in Königsfeld zurück)
I felt a cleaving in my mind ...
Was ist das Einzigartige an meinem ADHS-Sein, an dieser besonderen Weise der Wahrnehmung? Diese Fragen beschäftigen mich schon seit vielen Jahren. Sie haben mich zu einem erweiterten Ansatz gebracht, über ADHS nachzudenken, einen Ansatz, der über die Beschäftigung mit ADHS als behandlungsbedürftige Krankheit hinausgeht. Ich nenne ihn, den lebensgeschichtlichen Ansatz.
ADHS tritt in meinem Leben nicht als eine Ansammlung von Symptomen auf, die ich abgrenzen und abgegrenzt wahrnehmen kann. ADHS betrifft mich als ganzes. Es gehört zu mir von Kindheit an und betrifft mich in allem. Deshalb faszinieren mich Menschen, die ebenfalls ADHS in sich trugen.
Was waren es für Menschen und wie lebten sie mit dem, was wir heute ADHS nennen?
Ich möchte Ihnen eine Persönlichkeit vorstellen, von der ich glaube, dass sie wahrscheinlich von ADHS betroffen war: Die amerikanische Dichterin Emily Dickinson. Ich sage deswegen wahrscheinlich, weil, betrachtet man ihr Leben, sehr vieles darauf hindeutet, dass sie von ADHS betroffen waren.
Man darf natürlich nicht den großen zeitlichen Abstand außer Acht lassen - Dickinson lebte im 19. Jahrhundert (1830 – 1886). Doch – wie gesagt - legen manche Hinweise in ihrer Biographie den Schluss nahe, dass sie - bei allem Vorbehalt - von ADHS betroffen gewesen ist.
Ich habe Emily Dickinson ausgewählt, weil sie mich auf den Titel "Die Hellsicht des Zwiespaltes"1 brachte. Ihre Gedichte sprechen vom Zwiespalt, vom Dazwischen-Sein, vom Anschein der Empfindungen und Eindrücke. Sie erschafft Bilder von Dingen, die nur vage wahrnehmbar sind und unsere sicheren Wahrnehmung von den Dingen wie unscharfe Spiegelungen erscheinen lassen. Dies aber tut sie in einer beeindruckenden Klarheit und sprachlicher Ausdruckskraft, die zutiefst bewegt, erfüllt und überzeugt. Dickinson ist die Dichterin des Dazwischens und sie zeigt uns so Details der Wirklichkeit, die wir ohne ihre Worte nicht sehen und begreifen könnten.
Was war sie für ein Mensch? Sie lebte äußerst zurückgezogen, mied Gesellschaft bis auf wenige vertraute Menschen. Sie stammte aus einer hochgebildeten, neuenglischen Familie, calvinistisch-puritanischer Abstammung. Man erkannte früh ihre besondere Begabung und förderte sie. Sie wurde natürlich wie es für die damalige Zeit üblich gemäß des Vorbildes einer höheren Tochter , also auf Haus und Familie erzogen. Aber darüber hinaus erhielt sie auch eine ausgezeichnete Bildung, was mit dem Umstand zusammenhing, dass ihr Großvater das Amherst-College mitgründete, einer Elite-Ausbildungsstätte, dessen Rektor Emily Dickinsons Vater wurde. Die ersten Jahre verbrachte Emily dort, wurde in Latein, Mathematik, Geschichte, Literatur und Sprachen unterwiesen. Mit 17 wechselte sie auf das nicht minder renomierte Mount Holyoke Female Seminary, das sie jedoch nach einem Jahr abbrechen musste. Sie war zwar intelligent, litt aber unter so erheblichen körperlichen und seelischen Beschwerden, dass sie ihr Studium nicht fortsetzen konnte. Körperlich war ihre Konstiution schwach, seelisch litt sie unter einem nervösen, übersensiblen Gemüt und einer Neigung zu Depression. Ein überstarkes Gemütsmerkmal war Dickinsons Zurückgezogenheit und Introvertiertheit. Zeit ihres Lebens hielt sie sich in Amherst, ihrer Geburtsstadt auf. Sie heiratete nie, verließ nur selten ihr Haus und blieb meistens auf ihrem Zimmer, um zu schreiben. Selbst vertraute Personen, mit denen sie in intensiver Brief-Verbindung stand, begegneten ihr selten oder gar nicht. Demgegenüber steht die Weite und Tiefe ihrer Gedichte. In ihrer Vorstellungskraft überschritt sie die engen, selbstgewählten Grenzen ihres Lebens, schuf eine andere Form der Poesie und wurde so zu einer Wegbereiterin der Moderne.
Was lässt sie in die Nähe dessen rücken, das wir heute ADHS nennen und wie wirkte es auf ihr Leben ein? Menschen mit ADHS neigen zu einer oszillierenden, schillernd-unscharfen Wahrnehmung. Offensichtliches erkennen sie nicht, doch sie nehmen beinahe unsichtbare Dinge war, die Menschen ohne ADHS zu übersehen neigen. Ein schönes Beispiel für diese besondere Form der Wahrnehmung finden wir in Dickinsons Gedicht "Bei einem flieh'nden Licht"
Bei einem flieh'nden Licht
wird schärfer das Gesicht
als bei dem Docht, der bleibt.
Des Lichtes Flieh'n verspricht
uns weite klare Sicht -
geschmückt gezeigt.
Das Licht geht, ist unscharf und unklar. Doch eben diese Lichtverhältnisse lassen die Konturen des Gesichts deutlicher hervortreten.
Ein weiteres Merkmal der besonderen ADHS-Wahrnehmung ist, dass sämtliche Reize ungefiltert auf einen Menschen mit ADHS einströmen. Auch davon gibt Dickinsons Werk Zeugnis:
I felt a cleaving in my mind
As if my brain had split;
I tried to match it, seam by seam
But could not make it fit
*
Ich fühl ein Zwischen in meinem Geist
als bräche mein Hirn entzwei.
Ich säumte, nähte, flocht
doch zu fügen vermocht ich nichts.
Emily Dickinsons Weise, dem Ungestüm der Reize zu entgehen, war, sich ganz zurückzuziehen. Das ist typisch für Menschen, die von der hypoaktiven Variante des ADHS, der Träumer-Variante betroffen sind: Sie entziehen sich, verstummen, lassen ihre ausgestreute Gedanken fahren und träumen sich davon. Sie wirken introvertiert und ruhig. Tatsächlich aber sind ihre Sinne und Stimmungen in großer Bewegung, indes einer Bewegung, die sie nicht halten können. Emily Dickinson vermochte diese Bewegung in Worte umzusetzen; Kreativität ist ein auffallend häufiges Merkmal bei Menschen mit ADHS. Es ist so auffallend häufig, dass Kreativität nicht selten als unmittelbares ADHS-Merkmal betrachtet wird. Das aber geht m.E. über das Gebotene hinaus. Jeder Mensch hat Kreativität in sich. Betroffene aber sind zutiefst von ihr abhängig, weil sie ihnen die Möglichkeit gibt, ihrem So-Sein einen Ausdruck zu geben. Nicht ADHS ist die Ursache von Kreativität, sondern die Möglichkeit sich dadurch auszudrücken und zu entfalten.
Dieser Umstand ist der größte Gewinn für einen Menschen mit ADHS. Und tatsächlich ist es kein Zufall, dass unter den innovativen, schöpferischen Geistern zahlreiche Personen mit ADHS sind. Emily Dickinson galt als hochsensibel und neigte zu depressiven Verstimmungen. Ihre Schwester bezeichnete sie als einen Menschen von "zarter" Verfassung. In dieser Umschreibung könnte sich jene für Menschen mit ADHS typische Stimmungs- und Affektlabilität wiederspiegeln. Dass die Dichterin niemals reiste und so gut wir gar nicht ihre bekannte und geordnete Umgebung verließ, scheint auch der Kompensation gedient zu haben: Strenge, ja starre äußere Stabilität wirkte der fehlenden inneren ausgleichend entgegen. Dieser festgefügte Rahmen ließ sich jedoch nicht mehr aufrecht halten, als einige von Emily Dickinsons besonders nahestehende Freunde und Verwandte verstarben, etwa ihre Mutter und ihr Neffe. Ihre ohnehin gebrechliche Verfassung verschlechterte sich zusehends, bis sie schließlich im Mai 1886 verstarb (als Todesursache wurde das "Bright Syndrom" angegeben, ein Nierenleiden, dessen Aussagekraft allerdings umstritten ist, da diese Diagnose zum damaligen Zeitpunkt häufig gestellt wurde).3
Hat sie deswegen ein tragisches Leben gehabt und ist Ursache davon womöglich ADHS? Beide Fragen greifen zu kurz. Dickinson hatte die Möglichkeit, ein Leben ihrer besonderen Verfassung gemäß zu führen. Sie folgte keinen Konventionen, die ihrem Naturel widersprachen- und offenbar brauchte sie dies auch nicht. Sie veröffentlichte zu Lebzeiten nur sieben Gedichte ihres sehr umfangreichen Werkes, was aber nicht Ausdruck dafür ist, dass man ihre Dichtkunst für unbedeutend hielt. Denn in dem kleinen Kreis ihrer Freunde und Vertrauten schätzte man ihre Sprachbegabung und ihre Dichtung überaus. Dickinson litt unter Depressivität und viele ihrer Gedichte thematisieren Tod und Vergänglichkeit. Doch ebenso drücken sie Hoffnung, Schönheit und Vitalität aus. Ein depressiver Mensch muss kein Pessimist sein.
Ich möchte noch einmal, bezogen auf Emily Dickinson die Frage stellen, was ist das Einzigartige am ADHS-Sein, an dieser besonderen Weise der Wahrnehmung? Sie ist bereichernd, insofern man ihr Potential erkennt und sie nicht den Konventionen zum Opfer fallen lässt, mit denen wir umgeben sind. Emily Dickinson scheint diese Freiheit gehabt zu haben. Ihr beinahe exzentrisch zurückgezogenes Lebens, ermöglichte ihr, jenes außergewöhnliche Werk zu schreiben. Menschen mit ADHS faszinieren. Sie beunruhigen, sind zerstreut, getrieben, kraftraubend. Und sie setzen Kräfte frei, sie sind - im wahrsten Sinn des Wortes - tatkräftig bzw. können es sein. Von Emily Dickinsons Werk geht eine große, inspirierende Kraft aus. Dafür brauchen Menschen mit ADHS andere, die ihnen Stand geben und sie lieben. Emily Dickinson hatte Menschen solche Menschen. Freunde, Verwandte und Vertraute, die sie wertschätzten und sie in ihrem So-Sein beließen.
(Der Text geht auf einen Vortrag am 6.12.2014 in Königsfeld zurück)
Uwe Metz - 20. Jan, 15:00