Die Dimensionen des ADHS

Script zum Vortrag vom 20.5.2010 in Böblingen:
Dimensionen des ADHS - Was bedeutet es, von ADHS betroffen zu sein


Zwei Perspektiven
Wie betrachten wir als Betroffene ADHS? In erster Linie sehen wir Betroffene die unmittelbaren Auswirkungen des ADHS. Den Symptomen gilt unsere Aufmerksamkeit. Ebenso der Frage nach Diagnose, Therapie und Medikamenten. Unter diesem Gesichtspunkt, dem der Diagnose und Behandlung, wird ADHS zu einer Krankheit. Es hat jedoch, und das ist das Bemerkenswerte an ADHS, sehr viele Dimensionen. Es ist facettenreich und brillant, nicht nur bezogen auf die eigene Betroffenheit, sondern auch wie ADHS von der Umwelt gesehen wird. Jene Sichtweise hat wesentlichen Einfluss auf die persönliche. Um ADHS gerecht zu werden, ist es also entscheidend, die Verbindung und die Abhängigkeit zwischen der eigenen und der äußeren Sichtweise zu ermessen. Ich setze an den Beginn meiner Ausführungen ein Zitat aus der Nord-West-Zeitung, in dem beide Perspektiven gut zum Ausdruck gebracht werden:
„ADHS wird mehr denn je anerkannt als eine Besonderheit in der Verhaltenssteuerung. Sie ist ein vor allem ein genetisch bedingtes Leiden, das nicht nur den Betroffenen, sondern auch ihrer Umwelt Leiden schafft.“ Impulsivität, Ablenkbarkeit und nicht selten eine große Unruhe machten es den Betroffenen schwer, in einer komplizierten Gesellschaft, den eigenen Weg zu finden.
Nord-West-Zeitung; Art. Symposium „ADHS in Schule und Beruf“; 14.4.´10
http://www.nwzonline.de/Region/Kreis/Wesermarsch/Nordenham/Artikel/2319928/ADHS+zwischen+Schule+und+Beruf.html


Verantwortung
Impulsivität, Unruhe, Ablenkbarkeit sind Symptome des ADHS. Jedes dieser Symptome prägt unser Leben. Wir sind gehalten, Unruhe und Impulsivität in Bahnen zu lenken, mit Unaufmerksamkeit und Ablenkbarkeit umzugehen. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe.
Lynn Weiss schreibt dazu: „Die Wahrheit ist – und Sie und ich wissen das aus eigener Erfahrung -, dass ADS-Züge einen in Schwierigkeiten bringen. Aber das bedeutet nicht, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt. Es bedeutet lediglich, dass die Art und Weise, wie Sie verdrahtet sind, unter Umständen nicht sehr gut zu den Anforderungen einer bestimmten Situation passt. .. Doch was auch immer die Ursache für die Schwierigkeit ist, die Verantwortung, mit Ihrer Situation zurande zu kommen, liegt bei Ihnen.“ Nicht Diagnose, Therapie und Medikation, sondern Verantwortung ist der Ausgangspunkt für Umgang mit ADHS. Er verbindet die eigene Verfassung, die „Besonderheiten in der Verhaltenssteuerung“ mit der Reflexion der äußeren Lebensumstände.

Die Wahrnehmung der Anderen
Dieses Unterfangen kann aber nicht ohne den Blick auf unsere Umwelt in Angriff genommen werden. Die Bedeutung des ADHS in unserem Leben hängt wesentlich von der Weise ab, wie wir durch unser Umfeld damit konfrontiert werden. Die Niederländerin Karin Windt macht in ihrem Buch „ADD – The Hidden Obstacle“ (ADHS – das verborgene Hindernis) ein Gedankenexperiment. Sie versetzt ADHS in die Zukunft. Vieles wird dann vom PC aus über das Internet geleistet werden, Einkäufe oder berufliche Aufgaben beispielsweise. Es ist denkbar, dass diese Entwicklung Menschen mit ADHS entgegenkommt und die Betroffenheit davon gar nicht mehr so drängend erscheint wie gegenwärtig. Ob das tatsächlich der Fall ist, wird man sehen. Doch der Gedanke von Karin Windt, dass die gesellschaftliche Wahrnehmung von ADHS wesentlich in Abhängigkeit zu den Zeitumständen steht, ist richtig.Ein anderes Beispiel: Die ADHS-Spezialistin Astrid Neuy-Barthmann äußerte während des Sindelfinger ADHS-Symposiums 2009, dass sich ohne Zweifel der Einsatz von Ritalin verringern ließe, wenn die Schülerzahlen in den Klassen kleiner und die Möglichkeiten der individuellen Betreuung besser gewährleistet wären. Sie brachte damit zum Ausdruck, dass über die Medikation die problematischen schulischen Rahmenbedingungen bewältigt werden. Die Vielgestaltigkeit des Syndroms birgt die Gefahr, dass bei einer undifferenzierten Betrachtung ADHS zum Ersatzkonflikt für Auseinandersetzungen wird, die andernorts geführt werden müsste. Was für Kinder und Jugendliche im Blick auf die Schule, gilt für erwachsene ADHS-Betroffene im Blick auf die beruflichen Erwartungen.

Die Erwartungsgesellschaft
Wir leben, wie das eingangs erwähnte Zitat deutlich macht, in einer komplizierten werdenden Gesellschaft. Der Leistungsdruck des einzelnen erhöht sich; wir müssen beruflich funktionieren. Von diesem Funktionieren ist viel abhängig: Unsere Lebensplanung, unser Auskommen bzw. das unserer Familien. Wenn wir scheitern, wenn wir nicht funktionieren, stellen wir unsere Lebensgrundlagen in Frage. Menschen mit ADHS sind viel häufiger als Menschen ohne ADHS der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt. Doch hinterfragen wir einmal dieses Scheitern? Wir sind gehalten, den wirtschaftlichen Anforderungen in unserer Gesellschaft gerecht zu werden. Unsere Arbeitskraft und Leistungsfähigkeit müssen sich als lohnenswert erweisen. Sie dürfen keine Sprünge oder Unberechenbarkeiten wie Krankheit oder Behinderung aufweisen. Unsere in entscheidender Hinsicht auf wirtschaftliche Leistung ausgelegte Gesellschaft verlangt optimale Leistungsfähigkeit. Unsere Erwartungsgesellschaft zeichnet sich in der Hauptsache durch ökonomische Erwartungen aus. Sich an die wirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen, ist, wie man am gegenwärtigen politischen Geschehen erkennen kann, das Gebot der Stunde. Doch wer kann die Erwartung beständiger Willfährigkeit und Leistungsfähigkeit tatsächlich garantieren? Im Grunde ist kaum jemand dazu in der Lage und dennoch richten wir uns nach dieser Vorgabe. Die Schriftstellerin Julie Zeh beklagt diese „Bereitschaft zur Selbstausbeutung“. Menschen mit ADHS haben es in einem solchen Umfeld schwer. Sie scheitern, selbst wenn sie diese Bereitschaft haben, die geforderten Leistungen zu erfüllen. Sie widersprechen einem dem Ideal der ökonomisierten, d.h. auf wirtschaftliche Gesichtspunkte ausgerichteten Weltanschauung (R. Willemsen). Die Gefahr durch das Raster der Erwartungsgesellschaft zu fallen ist für Menschen mit ADHS höher. Der bestehende Druck lässt kaum Gelegenheit, sich der Frage zuzuwenden, welches Raster denn für sie das passende ist. Wenn es um die eigene Lebensführung geht, ist allerdings diese Frage die wesentliche. Gewiss nicht ohne sich vollständig den gesellschaftlichen Erwartungen zu entziehen, das wird kaum möglich sein. Als Betroffene müssen wir allerdings zunächst nach uns fragen, nach unseren Begabungen und unseren Grenzen. Dann im folgenden Schritt müssen wir auf das achten, was uns umgibt, also was die Umstände, in denen wir leben, von uns verlangen. Gehen wir den umgekehrten Weg, also von den Erwartungen ausgehend, erleben wir uns viel öfters als gescheiterte Menschen. Unter dieser Voraussetzung ist es im Grunde kaum mehr möglich, eine andere Perspektive als die des Mangels und des Defizites einzunehmen.

Die Dimensionen des ADHS
Betrachtet man ADHS vom Standpunkt der Umstände und Erwartungen aus, ist es schlüssig, das Syndrom als Behinderung, Handicap oder Krankheit zu bezeichnen. Aber ADHS zeichnet sich eben nicht nur durch diese Seite. Der Artikel der NWZ bezeichnet ADHS zu Recht neutral, als „Besonderheit der Verhaltenssteuerung“.
Ähnlich sieht es auch Lynn Weiss. Sie spricht von einer „alternativen Verdrahtung“ des Gehirns. Diese Definition wird dem neurologischen Befund des ADHS gerechter als diejenige, die grundsätzlich von Krankheit und Behinderung spricht. Natürlich gibt es die Krankheits- und Behinderungsseite des ADHS.
Aber es gibt auch ADHS-Eigenschaften wie
Kreativität
das Vermögen, Querverbindungen herzustellen
ein besonderer Sinn für Gerechtigkeit

Wenn ich von mir als ADHS-Betroffener spreche, muss ich sowohl diejenige Symptome einbeziehen, die es mir schwer machen, im Leben zurecht zu kommen und einer Behandlung bedürfen. Ich muss ebenso den anderen, positiven Eigenschaften Raum in meinem Leben geben. Die Möglichkeiten und Grenzen aufeinander zu beziehen, d.h. auf Gaben (wie der Kreativität) zurückzugreifen und mit den Unzulänglichkeiten (wie der mangelnden Impulskontrolle) umzugehen, ist die große Herausforderung eines ADHS-Lebens. In diesem Zusammenhang bemerkenswert ist, dass Betroffene ihr ADHS als für ihre Persönlichkeit kennzeichnenden Teil betrachten. Auf die Frage, ob sie, wenn es möglich wäre, ihr ADHS ablegen könnten, antwortet eine nicht geringe Zahl, dass ADHS zu ihnen gehöre und sie sich nicht ohne es vorstellen können.

Doch unter dem Eindruck des Scheiterns ist es kaum möglich, sich auf seine Stärken zu besinnen. Menschen mit ADHS erleben sich grundsätzlicher in der Verfassung, Anforderungen nicht stemmen zu können, die bewältigbar zu sein scheinen. Viele entwickeln aus dieser Erfahrung eine Lebenshaltung des Sich-Selbst-Hinterfragens und beständigen Sich-Rechtfertigen-Müssens. Diese Erfahrung mündet entweder in eine aggressiven, aufreibenden Dauerwiderstand gegen alles und jeden oder in eine grundsätzlich defensive Lebenshaltung. Als Beispiel für letzteres sei eine Anekdote aus Karin Windts Buch erwähnt. Sie erzählt, dass jemand versuchte, ihr Fahrrad zu stehlen – sie hatte vergessen, es abzuschließen. Als sie den Dieb stellte, erklärte ihr dieser dreist, dass sie selbst die Schuld am Diebstahl trüge, denn es sei sträflich unaufmerksam von ihr gewesen, das Rad ungesichert abzustellen. Aus der Erfahrung des grundsätzlichen Sich-In-Frage-Stellens gab sie dem Dieb tatsächlich Recht. So bizarr dieses Beispiel wirkt, so sehr zeigt es doch, dass das eigene Empfinden von angemessen und unverhältnismäßig durch die dauerhafte Erfahrung des Scheiterns verzerrt werden kann. Um dieser Verzerrung entgegenzutreten, bedeutet dies für Menschen mit ADHS sich bewusst und ohne primären Blick auf die Lebensumstände, den Fragen zu stellen:
Was passt zu mir?
Wo bedarf ich äußerer Hilfestellung?
Wie und wo kann ich meine Möglichkeiten und Gaben zur Geltung bringen?
Welche Erwartungen an mich sind angemessen und gerechtfertigt; welchen muss ich mich stellen?
Welche Erwartungen sind für mich nicht erfüllbar?

Die Antworten können lauten, eine Medikation zu beanspruchen, wenn sich der Alltag dadurch leichter bewältigen lässt. Sie kann bedeuteten, eine Halbtagsbeschäftigung ins Auge zu fassen, wenn die berufliche Situation überfordert (dabei müssen die finanziellen Konsequenzen aufrichtig bedacht werden). All dies führt dazu, zu erkennen, dass „ADS .. viele gute Seiten hat, man muss nur die Hierarchie der Besonderheiten erkennen, sie nicht bekämpfen, sondern sich ihrer bedienen, um seine Persönlichkeit voll entfalten zu können.“ (Helga Simchen)
Insgesamt ist bei der Betrachtung von ADHS ist zu beachten, dass es in erster Linie zwar den einzelnen betrifft, aber eben auch durch die Gesellschaft beansprucht und gedeutet wird. Wir halten uns nicht in einem Raum auf, bei dem nur die individuellen Befindlichkeiten und Einschätzung im Blick auf unser ADHS maßgeblich sind. Wir befinden uns stets in einem Wechselspiel mit der Gesellschaft und den in ihr herrschenden Umständen. Deshalb sind der Erfahrungsaustausch und Kenntnis um ADHS unverzichtbar, um Klarheit und Klärung herbeizuführen.

Das Zitat von Helga Simchen zeigt, dass ADHS keine reine Behinderung ist, sondern zugleich eine Chance bedeutet. Unleugbar leben wir in einer Zeit, die es Betroffenen, insbesondere Kindern und Jugendlichen nicht leicht macht. Umso wichtiger ist es, sich seiner Möglichkeiten bewusst zu werden und seine Gaben zu fördern. Hermann Hesse, der in ausgeprägtem Maße von ADHS betroffen war, viele Krümmungen seines Lebensweges durchschritt und nicht wenige innere und äußere Kämpfe austragen musste, kam dennoch zu einer positiven Lebenseinstellung. Davon künden die Zeilen seines wunderbaren Gedichtes „Stufen“, aus dem ich am Ende zitiere:

Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

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