Dienstag, 3. Februar 2015

Liste der am ADHS-Programm teilnehmende Ärzte und Therapeuten (kassenärztliche Vereinigung BW)

Hier finden Sie die Liste der KV BW von Therapeuten und Ärzten,

Die Liste ist nach Landkreise geordnet, was die Orientierung erleichtert.

Bitte berücksichtigen Sie, dass bei vielen Fachleuten mit Wartezeiten zu rechnen ist. Deshalb ist es empfehlenswert ist es, sich einer Gesprächsgruppe vor Ort anzuschließen. Dort können Sie sich austauschen, informieren und Erfahrungen teilen. ADHS-Gesprächsgruppen erleichtern den eigenen Umgang mit den Symptomen sehr.

Sie können, wenn sich keine Gesprächsgruppe in Ihrer Nähe befindet, sich dem ADHS-Forum anschließen. Das ersetzt nicht den persönlichen Austausch, ist aber eine beträchtliche Hilfe, um sich zu orientieren.

Dienstag, 20. Januar 2015

Über die Einzigartigkeit eines Lebens mit ADHS

Die amerikanische Lyrikerin Emily Dickinson

I felt a cleaving in my mind ...

Was ist das Einzigartige an meinem ADHS-Sein, an dieser besonderen Weise der Wahrnehmung? Diese Fragen beschäftigen mich schon seit vielen Jahren. Sie haben mich zu einem erweiterten Ansatz gebracht, über ADHS nachzudenken, einen Ansatz, der über die Beschäftigung mit ADHS als behandlungsbedürftige Krankheit hinausgeht. Ich nenne ihn, den lebensgeschichtlichen Ansatz.
ADHS tritt in meinem Leben nicht als eine Ansammlung von Symptomen auf, die ich abgrenzen und abgegrenzt wahrnehmen kann. ADHS betrifft mich als ganzes. Es gehört zu mir von Kindheit an und betrifft mich in allem. Deshalb faszinieren mich Menschen, die ebenfalls ADHS in sich trugen.
Was waren es für Menschen und wie lebten sie mit dem, was wir heute ADHS nennen?
Ich möchte Ihnen eine Persönlichkeit vorstellen, von der ich glaube, dass sie wahrscheinlich von ADHS betroffen war: Die amerikanische Dichterin Emily Dickinson. Ich sage deswegen wahrscheinlich, weil, betrachtet man ihr Leben, sehr vieles darauf hindeutet, dass sie von ADHS betroffen waren.
Man darf natürlich nicht den großen zeitlichen Abstand außer Acht lassen - Dickinson lebte im 19. Jahrhundert (1830 – 1886). Doch – wie gesagt - legen manche Hinweise in ihrer Biographie den Schluss nahe, dass sie - bei allem Vorbehalt - von ADHS betroffen gewesen ist.
Ich habe Emily Dickinson ausgewählt, weil sie mich auf den Titel "Die Hellsicht des Zwiespaltes"1 brachte. Ihre Gedichte sprechen vom Zwiespalt, vom Dazwischen-Sein, vom Anschein der Empfindungen und Eindrücke. Sie erschafft Bilder von Dingen, die nur vage wahrnehmbar sind und unsere sicheren Wahrnehmung von den Dingen wie unscharfe Spiegelungen erscheinen lassen. Dies aber tut sie in einer beeindruckenden Klarheit und sprachlicher Ausdruckskraft, die zutiefst bewegt, erfüllt und überzeugt. Dickinson ist die Dichterin des Dazwischens und sie zeigt uns so Details der Wirklichkeit, die wir ohne ihre Worte nicht sehen und begreifen könnten.
Was war sie für ein Mensch? Sie lebte äußerst zurückgezogen, mied Gesellschaft bis auf wenige vertraute Menschen. Sie stammte aus einer hochgebildeten, neuenglischen Familie, calvinistisch-puritanischer Abstammung. Man erkannte früh ihre besondere Begabung und förderte sie. Sie wurde natürlich wie es für die damalige Zeit üblich gemäß des Vorbildes einer höheren Tochter , also auf Haus und Familie erzogen. Aber darüber hinaus erhielt sie auch eine ausgezeichnete Bildung, was mit dem Umstand zusammenhing, dass ihr Großvater das Amherst-College mitgründete, einer Elite-Ausbildungsstätte, dessen Rektor Emily Dickinsons Vater wurde. Die ersten Jahre verbrachte Emily dort, wurde in Latein, Mathematik, Geschichte, Literatur und Sprachen unterwiesen. Mit 17 wechselte sie auf das nicht minder renomierte Mount Holyoke Female Seminary, das sie jedoch nach einem Jahr abbrechen musste. Sie war zwar intelligent, litt aber unter so erheblichen körperlichen und seelischen Beschwerden, dass sie ihr Studium nicht fortsetzen konnte. Körperlich war ihre Konstiution schwach, seelisch litt sie unter einem nervösen, übersensiblen Gemüt und einer Neigung zu Depression. Ein überstarkes Gemütsmerkmal war Dickinsons Zurückgezogenheit und Introvertiertheit. Zeit ihres Lebens hielt sie sich in Amherst, ihrer Geburtsstadt auf. Sie heiratete nie, verließ nur selten ihr Haus und blieb meistens auf ihrem Zimmer, um zu schreiben. Selbst vertraute Personen, mit denen sie in intensiver Brief-Verbindung stand, begegneten ihr selten oder gar nicht. Demgegenüber steht die Weite und Tiefe ihrer Gedichte. In ihrer Vorstellungskraft überschritt sie die engen, selbstgewählten Grenzen ihres Lebens, schuf eine andere Form der Poesie und wurde so zu einer Wegbereiterin der Moderne.
Was lässt sie in die Nähe dessen rücken, das wir heute ADHS nennen und wie wirkte es auf ihr Leben ein? Menschen mit ADHS neigen zu einer oszillierenden, schillernd-unscharfen Wahrnehmung. Offensichtliches erkennen sie nicht, doch sie nehmen beinahe unsichtbare Dinge war, die Menschen ohne ADHS zu übersehen neigen. Ein schönes Beispiel für diese besondere Form der Wahrnehmung finden wir in Dickinsons Gedicht "Bei einem flieh'nden Licht"

Bei einem flieh'nden Licht
wird schärfer das Gesicht
als bei dem Docht, der bleibt.
Des Lichtes Flieh'n verspricht
uns weite klare Sicht -
geschmückt gezeigt.

Das Licht geht, ist unscharf und unklar. Doch eben diese Lichtverhältnisse lassen die Konturen des Gesichts deutlicher hervortreten.
Ein weiteres Merkmal der besonderen ADHS-Wahrnehmung ist, dass sämtliche Reize ungefiltert auf einen Menschen mit ADHS einströmen. Auch davon gibt Dickinsons Werk Zeugnis:

I felt a cleaving in my mind
As if my brain had split;
I tried to match it, seam by seam
But could not make it fit
*
Ich fühl ein Zwischen in meinem Geist
als bräche mein Hirn entzwei.
Ich säumte, nähte, flocht
doch zu fügen vermocht ich nichts.

Emily Dickinsons Weise, dem Ungestüm der Reize zu entgehen, war, sich ganz zurückzuziehen. Das ist typisch für Menschen, die von der hypoaktiven Variante des ADHS, der Träumer-Variante betroffen sind: Sie entziehen sich, verstummen, lassen ihre ausgestreute Gedanken fahren und träumen sich davon. Sie wirken introvertiert und ruhig. Tatsächlich aber sind ihre Sinne und Stimmungen in großer Bewegung, indes einer Bewegung, die sie nicht halten können. Emily Dickinson vermochte diese Bewegung in Worte umzusetzen; Kreativität ist ein auffallend häufiges Merkmal bei Menschen mit ADHS. Es ist so auffallend häufig, dass Kreativität nicht selten als unmittelbares ADHS-Merkmal betrachtet wird. Das aber geht m.E. über das Gebotene hinaus. Jeder Mensch hat Kreativität in sich. Betroffene aber sind zutiefst von ihr abhängig, weil sie ihnen die Möglichkeit gibt, ihrem So-Sein einen Ausdruck zu geben. Nicht ADHS ist die Ursache von Kreativität, sondern die Möglichkeit sich dadurch auszudrücken und zu entfalten.
Dieser Umstand ist der größte Gewinn für einen Menschen mit ADHS. Und tatsächlich ist es kein Zufall, dass unter den innovativen, schöpferischen Geistern zahlreiche Personen mit ADHS sind. Emily Dickinson galt als hochsensibel und neigte zu depressiven Verstimmungen. Ihre Schwester bezeichnete sie als einen Menschen von "zarter" Verfassung. In dieser Umschreibung könnte sich jene für Menschen mit ADHS typische Stimmungs- und Affektlabilität wiederspiegeln. Dass die Dichterin niemals reiste und so gut wir gar nicht ihre bekannte und geordnete Umgebung verließ, scheint auch der Kompensation gedient zu haben: Strenge, ja starre äußere Stabilität wirkte der fehlenden inneren ausgleichend entgegen. Dieser festgefügte Rahmen ließ sich jedoch nicht mehr aufrecht halten, als einige von Emily Dickinsons besonders nahestehende Freunde und Verwandte verstarben, etwa ihre Mutter und ihr Neffe. Ihre ohnehin gebrechliche Verfassung verschlechterte sich zusehends, bis sie schließlich im Mai 1886 verstarb (als Todesursache wurde das "Bright Syndrom" angegeben, ein Nierenleiden, dessen Aussagekraft allerdings umstritten ist, da diese Diagnose zum damaligen Zeitpunkt häufig gestellt wurde).3
Hat sie deswegen ein tragisches Leben gehabt und ist Ursache davon womöglich ADHS? Beide Fragen greifen zu kurz. Dickinson hatte die Möglichkeit, ein Leben ihrer besonderen Verfassung gemäß zu führen. Sie folgte keinen Konventionen, die ihrem Naturel widersprachen- und offenbar brauchte sie dies auch nicht. Sie veröffentlichte zu Lebzeiten nur sieben Gedichte ihres sehr umfangreichen Werkes, was aber nicht Ausdruck dafür ist, dass man ihre Dichtkunst für unbedeutend hielt. Denn in dem kleinen Kreis ihrer Freunde und Vertrauten schätzte man ihre Sprachbegabung und ihre Dichtung überaus. Dickinson litt unter Depressivität und viele ihrer Gedichte thematisieren Tod und Vergänglichkeit. Doch ebenso drücken sie Hoffnung, Schönheit und Vitalität aus. Ein depressiver Mensch muss kein Pessimist sein.
Ich möchte noch einmal, bezogen auf Emily Dickinson die Frage stellen, was ist das Einzigartige am ADHS-Sein, an dieser besonderen Weise der Wahrnehmung? Sie ist bereichernd, insofern man ihr Potential erkennt und sie nicht den Konventionen zum Opfer fallen lässt, mit denen wir umgeben sind. Emily Dickinson scheint diese Freiheit gehabt zu haben. Ihr beinahe exzentrisch zurückgezogenes Lebens, ermöglichte ihr, jenes außergewöhnliche Werk zu schreiben. Menschen mit ADHS faszinieren. Sie beunruhigen, sind zerstreut, getrieben, kraftraubend. Und sie setzen Kräfte frei, sie sind - im wahrsten Sinn des Wortes - tatkräftig bzw. können es sein. Von Emily Dickinsons Werk geht eine große, inspirierende Kraft aus. Dafür brauchen Menschen mit ADHS andere, die ihnen Stand geben und sie lieben. Emily Dickinson hatte Menschen solche Menschen. Freunde, Verwandte und Vertraute, die sie wertschätzten und sie in ihrem So-Sein beließen.

(Der Text geht auf einen Vortrag am 6.12.2014 in Königsfeld zurück)

Samstag, 23. November 2013

Was bedeutet ADHS heute?

vortrag-adhs-oberkochenaula-oberkochen (jpg, 1,122 KB)
Vortrag am Ernst-Abbe-Gymnasium in Oberkochen
Am 19.11.2013
vortrag-ernst-abbe-gymnasium (pdf, 732 KB)

Freitag, 26. Oktober 2012

Die Erfindung des Burnouts; Andacht am 17.10.2012 im Caritas-Haus, Feldberg

Die Erfindung des burnout
1. Kön. 18-19

Wer glaubt, dass das Burnout eine moderne Erfindung ist, dem sei gesagt: Die Bibel hat's erfunden. Genaugenommen ein Mann Gottes namens Elia. Elia war der erste Mensch, von dessen Burnout berichtet wird. Aus seiner Geschichte lässt sich einiges für uns herauslesen. Ausgebranntsein und Erschöpfung ist unter Menschen mit ADHS (und denen, mit denen sie es zu tun haben) weit verbreitet.

Elia war ein Getriebener. Einer der die Sache Gottes auf die Spitze prügelte, der sich festbiss. Er arbeitete unter Druck am besten. Mit Ziellosigkeit und Trägheit konnte er nichts anfangen. Elia heißt übersetzt: Nur der Herr ist Gott. Sein Name war Programm. Er lebte in einer Zeit allgemeinen Rückzugs. Die Leute kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten. Wer über den Tellerrand sah, war selber schuld, wenn er Beunruhigendes sah. Die Leute dachten in Klein-Klein. Die Leute dachten so, weil sie in außerordentlich unsicheren Zeiten lebten. Solche Zeiten verstärken das Bedürfnis, sich ins Häusliche zurückzuziehen. Je prekärer das Äußere wird, desto mehr verschanzt man sich im Privaten. Ein Grund für die Unruhe im Land war, dass es neben der ursprünglichen jüdischen Religion noch viele andere Kulte gab. Man duldete diese anderen Kulte. Insbesondere die Regierung tat dies, da sie auf Ausgleich aus war und mit den Nachbarländern keinen Streit wollte, von denen diese Kulte stammten. Die Leute sollten nach ihrer Facon selig werden, so lange sie einen in Ruhe ließen. Die Betonung lag auf „in Ruhe lassen“. Das brachte Elia auf. Diese Art von Ausgleichs- und Toleranzpolitik mobilisierte seinen Widerspruchsgeist. Die Bürger hingegen und insbesondere der König gaben ihren Glauben preis und missachteten Gott. Das brachte Elia in Wut
Und davon hatte er mehr als reichlich.

Heute würde man ihn als Eiferer, als Erzkonservativen, Brutalevangelikalen und Fundi bezeichnen.
Elia war der eiserne Besen des Herrn und wo er fegte, flogen Funken. Ein solcher Mann hatte kaum Freunde und eine Menge Feinde. Seine größte Feindin war ausgerechnet die Frau des Königs.
Ahab von Israel hatte Isebel geheiratet, die Tochter des Königs von Sidon. Es war eine politische Ehe, um sich einen Verbündeten zu schaffen. Isebel war treue Anhängerin der Baalsreligion, eines uralten Fruchtbarkeitskultes mit ziemlich bizarren und grauslichen Ritualen. Ahab duldete dies. Offiziell aus Gründen der Staatsräson. Inoffiziell wusste ganz Israel, wer im Herrscherhaus der Mann war. Und Ahab war es nicht. Elia hingegen widerstand und widersetzte sich der Königin.
Isebel hasste Elia und Elia verfluchte die Königin. Es war leidenschaftlicher Abscheu auf den ersten Blick. Zwei Dinge feuerten Elia an: Der Abscheu vor Isebel und ihrer falschen Religion und die Haltung der Israeliten. Das Volk ließ sich vom Krieg der Kulte unterhalten. Es beobachtete das Treiben der Akteure und tat ansonsten das, was zivilisierte Menschen stets tun, wenn andere aufeinander losgehen: Sie schüttelten peinlich berührt die Köpfe und legten die Hände in den Schoß.
Diese Trägheit, diese Unentschiedenheit ließen den Propheten vor Wut und Leidenschaft brennen.

Trägheit und Unentschiedenheit ist für Leute mit ADHS nichts. Mit Durschwurschteln und Larifari können sie nichts anfangen. Vielleicht schon allein deswegen, weil sie sich nicht sonderlich geschickt anstellen, was elegantes Durch-die-Maschen-Schlüpfen betrifft. Das ist durchaus ein Vorteil. Wer ständig die Ohren anlegt und den Mund nicht aufmacht, braucht sich nicht zu wundern, wenn er irgendwann taub und stumm wird. Diese Gefahr freilich drohte Elia nicht. Er war weder taub und ganz bestimmt nicht stumm. Wo immer er auf Baalspriester und –propheten stieß, ging er in den Frontalangriff über. Zwischen den falschen Priestern der Isebel und Elia kam es zu einem denkwürdigen Showdown:
Auf dem Berg Karmel schichtete er einen Altar aus Holz auf. Derjenige Gott, der den Stapel entzünden würde, sollte der Gott Israels sein. Elia hatte keinen Zweifel, wer den Sieg davontragen würde. Elia inszenierte diesen Götterkampf publikumsträchtig. Das Volk sollte selbst kommen, selbst sehen und selbst urteilen. Bei Baal kräuselte sich nicht einmal ein Rauchwölkchen, obwohl sämtliche 450 versammelten Priester alle Register ihres kultischen Könnens zogen. Der Gott Elias aber brachte den Altar mit einem Blitz zum Brennen. Was nun geschah, ging in die biblischen Analen ein. Elia griff zum Schwert und richtete unter den besiegten Priestern ein Blutbad an. Sein Sieg sollte ein endgültiger sein. Mit eigener Hand beförderte er die Baalsfunktionäre ins heidnische Jenseits. Als Isebel von dieser Gräueltat erfuhr, geriet sie außer sich vor Wut und blies zum Sturm gegen Elia.

Nun könnte man meinen, dass Elia das Wüten der Königin nichts ausmachen würde. Immerhin hatte er vor aller Augen klargemacht, welcher Gott wirklich und wie groß seine Allmacht war. Er hätte sich Isebel, dem Rest ihrer Priesterbrut und ihrem schlaffen Gatten ohne Furcht entgegenstellen können. Tatsächlich aber geschah das Gegenteil: Angst und Panikattacken ergriffen ihn. Er schlotterte vor Angst und statt anzugreifen, trat er in wilder Panik die Flucht an. Elias Feuer war erloschen. Er war ausgebrannt. Er hatte alles gegeben.
Weit im Süden, am Rand der Wüste glaubte er, vor Isebels Zorn sicher zu sein. Er wanderte sogar noch ein Stück weiter. Dann setzte er sich unter einen Wachholderbusch und versank in einer Erschöpfungsdepression.
„Es ist genug“, teilte er Gott mit. „Herr, lass mich sterben. Ich bin auch nicht besser als die, die vor mir waren.“ Mit allem hatte es Elia eilig, auch mit dem Tod. Diese heilige Depression war der Wendepunkt in Elias Leben. Er wünschte sich, zu sterben. Aber Gott setzte einen Neuanfang.

Burnout, Erschöpfung, Überforderung, Depression sind die Flüche der modernen Leistungsgesellschaft. Sagt man so. Aber was ist der Fluch eigentlich? Die Depression oder die falschen Erwartungen? Elia bekam von Gott höchstpersönlich eine Lektion in Sachen Burnout. Gott antwortete Elia nicht. Er schwieg. Er war ihm nicht zu Willen und ließ ihn sterben. Elia versank in ein dunkles Dämmern und als er die Augen öffnete, fand er einen Schluck Wasser und etwas frisches Brot.
Und dann sprach Gott zu ihm: „Iss erst einmal, trink und schlafe.“
Nachdem er sich ausgeruht hatte, bekam er noch einmal eine Portion Wasser und Brot neben seinem Kopf. In der Kraft dieser Speise, wanderte er vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum heiligen Berg Sinai. Und erst jetzt, nach essen, trinken, wandern, sprach Gott mit ihm.

Die Getriebenen dieser Welt verlieren in ihrer überbordenden Aktivität schnell die Welt aus den Augen. Weil alles sich alles um sie herum bewegt in ihrer atemberaubenden Geschwindigkeit, glauben sie, dass sie das Tempo vorgeben. Wie ein Kind, das einen Globus immer schneller dreht.
Wir dürfen uns in dieser Hinsicht nichts vormachen. Die Welt hat ihr eigenes, unabhängiges Tempo.
Doch weil die Getriebenen diesen Umstand gerne übersehen, glauben sie auch, mit Gott verhielte es sich genauso. Elia jedenfalls schien diesem Glauben aufgesessen und daran gescheitert zu sein.
Gott fragte den Elia: „Was machst du hier?“
Und Elia antwortete: „Ich habe gebrannt für dich. Ich habe für dich gekämpft. Niemand in deinem Volk schert sich um dich. Also habe ich das Schwert ergriffen und alle deine Feinde umgebracht. Aber geändert hat sich nichts. Gar nichts. Und nun bin ich verbrannt. Ich bin nur noch Asche.“
In Elias Antwort steckt aller Trübsal, alle Enttäuschung eines Überanstrengten. Er hat alles gegeben, was er zu geben hatte und noch mehr. Und alles war für die Katz. Er hatte sich verschätzt. Mehr noch: Gott hatte sich verschätzt. Alles war geblieben, wie es war. Statt seine Feinde besiegt zu haben, hatte Elia sie alle auf dem Hals. Das Volk blieb, Danke für die Show!, träge und unentschieden wie zuvor. Aber hatte Gott denn überhaupt erwartet, was Elia von sich abverlangt hatte? Die beiden Fragen, die sich hinter der Frage „Elia, was tust du hier?“ verbargen, lauten, ob Gott überhaupt von Elia erwartet hatte, was dieser von sich selbst verlangte und ob Gott überhaupt der war, von dem Elia erwartet hatte, das er es sein sollte. Der Dröhnende, Gewaltige, Allmächtige und Zerstörende. Gott sprach zu Elia: „Sieh dir das Folgende an und sage mir, wo ich zu finden bin?“
Elia trat auf einen Felsvorsprung. Ein Sturm brach los, der die Steinlawinen von den Bergen riss. Ein Erdbeben ließ ganze Felswände abrutschen. Ein Ungewitter riss den Himmel in Stücke.
Aber in all dem war Gott nicht. Dann hörte Elia ein stilles Säuseln. In diesem Windhauch war Gott. Eine Brise mit der Autorität des Allmächtigen. Da bedeckte der Prophet sein Gesicht aus Ehrfurcht und Scham.
Elias Irrtum war, dass er meinte zu wissen, wer Gott ist und wie er handelt, nämlich voller Zorn und Gewalt. Weil er selbst, Elia, so handeln würde. Ein typischer Zug von Leuten, die sich gerne in etwas hineinsteigern und „überfokussieren“ Unsereins hat die Neigung, diesem Irrtum zu erliegen.
Umso niederschmetternder, wenn der Irrtum zu Tage tritt. Es gibt eine Menge Gründe, warum jemand ausbrennt. Aber ein Grund ist jener Tunnelblick aus falschen Erwartungen. Und der zweite, sich nicht von diesen Erwartungen abringen zu lassen.

Ich bin, ich gebe es zu, was diese beiden Irrtümer betrifft, ein Wiederholungstäter. Eben drum fiel mir Elia auf. Ich neige wie er dazu, von einer Sache so sehr überzeugt zu sein, dass es daneben keine andere gibt. Ich sage ja nicht, das es falsch ist, eine Überzeugung zu haben und sich dafür einzusetzen – im Gegenteil: Das israelitische Volk und sein König hatten weder eine Meinung, noch eine Überzeugung noch einen Glauben. Sie waren träge wie Vieh, das weder nach rechts und nach links sieht und sich nur um das nächste Büschel Gras kümmert.
Elia hingegen hatte eine so feste Überzeugung, dass er meinte, sogar Gott müsse sich daran halten. Und deshalb verausgabte er sich.

Wie ging es nun weiter mit Elia? Wurde er von Gott zu Recht gebracht und nach dem Lernerfolg zurückgeschickt, um es diesmal richtig anzufangen? Der Patient wird von seiner Depression geheilt, von falschen Selbst- (und Gottesbild) geheilt und dann wieder ins Rennen geschickt.
Nein, das geschah nicht.
Elia ging nicht mehr nach Israel. Gott hielt ihm weder eine heilige Standpauke, noch therapierte er ihn. Aber er schickte ihn auch nicht mehr zurück. Gott gab seinem Propheten einen letzten Auftrag, nämlich seinen Nachfolger aufzusuchen, einen jungen Mann namens Elisa. Der wurde der Prophet über Israel. Gott übergab Elisa den Auftrag nicht deswegen, weil Elia sich als untauglich erwiesen und versagt hatte. Sondern schlicht, weil Elias Zeit in Israel vorbei war. Jetzt war ein anderer dran.

Dieser Punkt wird von getriebenen Menschen gerne übersehen. Sie können sich nur vorstellen, an vorderster Front zu stehen. Sie sagen: „ Es gibt für mich nur diesen Platz.“ Ein Burnout ist nicht nur ein Zeichen, dass man sich durch falsche, überzogene Erwartungen überfordert hat. Es kann auch ein Zeichen dafür sein, dass etwas anderes anbrechen muss. Elia hatte verstanden, am Ende endlich verstanden, dass er weder über den Zeitpunkt bestimmte, wann was zu geschehen hatte, noch über die Art und Weise wie etwas zu geschehen hatte.

Ich neige – wie Elia – dazu, Gott mit meinen Entscheidungen zuvorzukommen und ihn so zu entmündigen. Der Weg des Glaubens, ob Elias Weg, meiner oder sonst irgendeines Menschen, hat das Ziel zu erkennen, dass Gott das letzte Wort hat. Und sich danach auszurichten. Das ist eine lebenslange Übung.
Elia dachte, dass sich sein Glaube am Erfolg bemaß, ob er seinen Willen durchsetzte. Dieser Irrglaube führte ihn ins finstere Tal seines Burnouts. Es ist nicht möglich, zwischen dem, was ist und was ich erwarte, keine gerade Linie meines Willens ziehen. So beherzt ich bin, so überzeugt ich mich einsetze, so gerecht mir meine Sache auch erscheint. Dietrich Bonhoeffer kämpfte gegen die Nazis und wurde verhaftet. Seine Sache war gerecht. Sie hätte es verdient, Erfolg zu haben. Stattdessen wurde er im KZ Flossenbürg hingerichtet. Er erfuhr wie kein anderer, dass es keine gerade Linie gibt, zwischen dem, was ist und dem, was sein soll. Das letzte Wort liegt nicht bei uns. Als er dies verstand, schrieb er aus der Haft einen sehr berührenden Brief an seine Familie: „Macht euch bitte keine Sorgen um mich, wenn etwas Schlimmes geschieht. Das haben … andere auch schon durchgemacht … Ich muss die Gewissheit haben können, in Gottes Hand zu sein und nicht in Menschenhänden. Dann wird alles leicht.“ (Aus: Widerstand und Ergebung, 7. Aufl., Hamburg 1971, S. 97).
Am Ende also zählt nicht, wie sehr ich eine Sache vorantrieb, ob ich dabei übertrieb, scheiterte oder ob sie mir gelang. Am Ende zählt, in welcher Gewissheit ich es tat.

Samstag, 29. September 2012

...

Die Hellsicht des Zwiespaltes
Infoabend über ADHS
am 27.9.2012

I. Teil S. 1-7
Warum dieser Titel? S. 1
Was ist ADHS? S. 2
Die Ursache von ADHS S. 5
Wie fühlen sich Menschen mit ADHS? S. 6

II. Teil S. 8-12
Welche guten Anlagen verbergen sich bei Menschen mit ADHS? S. 8
Warum ist heute so oft die Rede von ADHS? S. 10


Teil I

Warum dieser Titel?
Menschen mit ADHS haben eine besondere Wahrnehmung. Man traut ihnen aufgrund ihrer Unaufmerksamkeit und Nachlässigkeit wenig zu. Mir geht es darum, zu zeigen, dass die Wahrnehmung von Menschen mit ADHS auch ein großer Gewinn sein kann. Betroffene sind nicht nur Menschen mit einer Störung, sondern auch Menschen mit Gaben. Aber sie müssen sich, um dieses Ziel zu erreichen, ihren problematischen Seiten stellen. Dann gelangen sie auf die Gabenseite ihres ADHSseins. Der erste Schritt auf dieses Ziel zu ist Information. „Die wirksamste psychologische Intervention ist die Aufklärung.“ 1Dass Sie hier sind, macht deutlich, dass Sie den ersten, grundsätzlichen Schritt getan haben: Sie wollen etwas über ADHS wissen. Vielleicht weil Sie jemanden kennen, der es hat oder haben könnte. Vielleicht weil Sie sich fragen, selbst davon betroffen zu sein. Aus welchem Grund auch immer, Sie gehen in die richtige Richtung und dafür möchte ich Ihnen danken.
Man sieht bei Betroffenen zunächst deren Defizite. Z.B. im Fall dieser Persönlichkeit: „Er hatte schon früh den Ruf eines etwas sonderbaren Mannes. Meist schien er tief in Gedanken versunken zu sein. Immer wieder erwähnen Zeitgenosse seine sprichwörtliche Zerstreutheit … Was sein Äußeres betraf, so lachte man im Freundeskreis darüber und schalt ihn seiner vernachlässigten Kleidung und seiner ungepflegten, struppigen Haare wegen. Ebenso auffällig schien seine Gang: Entweder stolperte er oder er kam so zögernd daher, als habe er etwas verloren. … Seine Lehrer rühmten zwar seine Intelligenz, entrüsteten sich aber über seine Art zu lernen … ja sogar die Ortografie und Interpunktion beherrschte der sonst sprachgewandte Schüler nur sehr mangelhaft. Seine Studien brach er dann auch vorzeitig ab.“ 2 Man kann anhand dieser Beschreibung mehrere typische Erscheinungen des ADHS erkennen: Unaufmerksamkeit, eine Lese- Rechtschreibeschwäche, die gelegentlich in Verbindung mit ADHS auftritt und fehlendes Durchhaltevermögen. Trotzdem entwickeln solche Menschen besondere Fähigkeiten und tragen besondere Talente in sich. Die Persönlichkeit, die oben beschrieben wurde, war Heinrich Pestalozzi, einer der bedeutendsten Pädagogen Europas.


Was ist ADHS?
„Um mit dem Problem ADHS umgehen zu können, muss man verstehen, dass dem ADHS eine besondere neurobiologische Funktionslage des Gehirns zugrunde liegt.“3 Damit ist gemeint, dass Menschen mit ADHS „anders verdrahtet“ (Lynn Weiss) sind als Menschen ohne ADHS. Dieses Anders-Verdrahtetsein zeigt sich auf vielfältige und unterschiedlich ausgeprägte Weise. Im Folgenden zeige ich Ihnen diese Vielfalt auf. Die unterschiedlichen Farben, die Sie auf der Flipchart sehen, bezeichnen unterschiedliche Ebenen, auf denen sich das ADHS bemerkbar macht:

ADHS kommt in drei Betroffenheitsgraden vor:
Eckart von Hirschhausen erkennt an sich eine milde Form des ADHS.4
Hermann Hesse hatte ein stärker ausgeprägtes ADHS; man würde es heute als behandlungsbedürftig einstufen.5
Edgar Allan Poe litt unter starkem ADHS. Es brachte eine Suchterkrankung mit sich – eine häufige Begleiterkrankung –, die ihn schließlich sein Leben kostete.6

ADHS erscheint in unterschiedlichen Variationen:
- Hyperkinetisches Syndrom (Zappelphilipp)
- Hypokinetisches Syndrom (Träumer- oder Hans-Guck-in-die-Luft-Variante)
- Stark strukturierendes ADHS7
- ADHS ohne Aufmerksamkeitsdefizit mit fehlender Impulskontrolle
Man kann, allgemein gesagt, ADHS in zwei Weisen einteilen: Die extrovertierten Variationen (hyperkinetisches Syndrom und ADHS ohne Aufmerksamkeitsdefizit mit fehlender Impulskontrolle) und die eher introvertierten Variationen (hypokinetisches Syndrom und stark strukturiertes ADHS). Es ist öfters die Rede von den extrovertierten Erscheinungsweisen, vor allen Dingen von hyperaktiven Das hypokinetisches Syndrom, die Träumer-Variante fällt häufig nicht auf. Betroffene Kinder – öfters Mädchen als Jungen – werden meistens unterschätzt und gelten nicht selten als zurückgeblieben, insbesondere wenn ebenfalls eine Teilleistungsstörung festgestellt wird. Das ist in der Regel eine Fehleinschätzung, die den Fähigkeiten und der Intelligenz der betroffenen Menschen nicht gerecht wird. Jede einzelne Variation verdiente es, für sich in Augenschein genommen zu werden. Das würde allerdings den zeitlichen Rahmen des heutigen Abends sprengen. Auf der Seite des Bundesverbandes ADHS-Deutschland gibt es unter der Rubrik ADHS/ ADS eine Information speziell für Betroffene mit hypokinetischem Syndrom. Diese Information stammt von Dr. Helga Simchen. Sie ist die führende Spezialistin für ADS in Deutschland. Die verschiedenen Variationen des ADHS zeigen einerseits die Bandbreite des ADHS, andererseits die Schwierigkeit, es in einem Begriff zu fassen. Zumal sich seine Erscheinungsweisen, die Symptome, im Lauf des Lebens verändert. ADHS ist im wahrsten Sinn des Wortes mehrdeutig und zwiespältig.

Kinder mit ADHS
ADHS zeigt sich schon im Säuglingsalter. Oft schreien diese Kinder sehr viel, sind reizbar und quengelig. Anders allerdings bei Babys mit ADS. Sie sind eher pflegeleicht, unauffällig und ruhig.
Das Trotzalter ist stärker ausgeprägt. Hyperkinetische Kinder haben einen sehr hohen Bewegungsdrang. Ihre innere Unruhe kommt darin zum Ausdruck. Bei hypokinetischen Kindern zeigen sich zum ersten Mal Anzeichen des ADS: Sie sind still und abwesend, unaufmerksam und verträumt.
Im Kindergarten- und Schulalter kommt es in der Regel zu deutlichen Krisen. Die Kinder können nicht still sitzen, sind launisch, cholerisch, vergesslich und haben nicht selten Probleme mit der Sauberkeit und dem Sprechen. Auch hier fallen die ADS-betroffenen Kinder weniger auf, weil sie introvertiert sind und sich mit sich selbst beschäftigen. Große Gruppen oder Klassen sind für beide, ADHS- und ADS-Kinder anstrengend. Zu viele Reize strömen auf sie ein, die sie nicht ausfiltern können. Sie reagieren je nach Ausprägung unterschiedlich. Entweder drehen sie auf oder ziehen sich zurück. Im Kindergarten bzw. in der Schule kommt deutlich die wirkliche Natur des ADHS zum Ausdruck. Es ist nicht in erster Linie ein Aufmerksamkeitsdefizit, sondern eine Schwäche der Selbststeuerung. Auf ADHS-Betroffene stürzen alle Reize zur gleichen Zeit ein. Sie können sie nur unter großen Anstrengungen oder gar nicht steuern. Der Grund liegt in der Neurobiologie ihres Gehirns. Äußerlich zeigt sich die Reizoffenheit bzw. Reizübersensibiliät als Unaufmerksamkeit, Zerstreutheit, fehlende Impulskontrolle und Stimmungsschwankungen. Die klassische Darstellung von ADHS bei Kindern bietet übrigens der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann. In den Geschichten des Buchs entdeckt man sämtliche Symptome.

Jugendliche mit ADHS
Jugendliche mit ADHS entwickeln sich oft später als andere. Sie wirken für ihr Alter jünger bzw. kindlicher. Die Merkmale der Pubertät treten stärker zu Tage (Widerspruchsgeist, oppositionelles Verhalten, starke Launenhaftigkeit, Depressivität bis hin zur Selbstmordgefährdung). Die Familien sind in dieser Zeit oft über ihre Kräfte beansprucht. Die Reaktionen der Jugendlichen sind sehr widersprüchlich, gelegentlich regelrecht bizarr und nicht nachvollziehbar. Leider auch für die Betroffenen selbst. Während der Pubertät kommt es zu großen Veränderungen im Gehirn. Durch diese Veränderung wird der Gehirnstoffwechsel häufig ausgeglichen, so dass ADHS verschwindet. Bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung bleibt ADHS aber erhalten. In der Pubertät zeigt sich ADHS meist in Form einer Begleiterkrankung (Essstörung, Zwangs- und Angsterkrankungen, Depression, Suchtverhalten u.a.). Je früher eine Therapie einsetzt, desto besser können diese Begleiterkrankungen vermieden werden. Insbesondere Sucht stellt eine große Gefährdung für den Jugendlichen dar (Kiffen, Alkohol, Nikotin, PC-Sucht u.a.). Zugleich aber können in dieser Phase deutlich die besonderen Begabungen wahrgenommen werden.

Erwachsene mit ADHS
Zwischen 5 und 7%8 der Kinder einer Bevölkerung sind von ADHS betroffen. Es verliert sich nicht im Erwachsenenalter, sondern bleibt bei ca. 1 – 5% der Bevölkerung erhalten. Bezogen auf die Betroffenen selbst heißt das, dass zwischen 30 und 70% der Menschen mit ADHS lebenslang damit zu tun haben.9 Im Erwachsenenalter ändern sich die Symptome. Sie treten – wie bei Jugendlichen - in den Hintergrund, weil das ADHS von Begleiterkrankungen überlagert wird. Die häufigste Begleiterkrankung ist die Depression. Ursachen für Depressionen sind einerseits im Gehirnstoffwechsel zu suchen, andererseits aber auch, weil Menschen mit ADHS ein gebrochenes Selbstwertgefühl entwickeln. Sie scheitern an vielem, was andere scheinbar ohne Probleme bewältigen. Darüber hinaus muss sich ein Betroffener mehr anstrengend, um seinen Alltag zu regeln. Menschen mit ADS ziehen sich häufig zurück und verkümmern in dem Bewusstsein, nichts zu erreichen und ständig anzustoßen. Menschen mit ADHS haben Schwierigkeiten insbesondere, das Leben zu organisieren und Arbeiten zu Ende zu bringen, Zeiten einzuhalten, im Arbeitsverhältnis angepasst zu reagieren und die persönlichen Verhältnisse zu ordnen. Aus dem hyperaktiven Schüler wird der nervöse, fingertrommelnde Erwachsene, der keine Arbeit organisiert und zu Ende bringt, der Charmeur, der keine Beziehung halten kann und der Workaholic, der seine Teampartner durch ständig neue, unfertige Ideen zur Verzweiflung treibt.“10 Skrodzki, a.a.O., S. 31.
Diese inneren Spannungen rufen neben den Depressionen auch Angststörungen hervor und die bereits genannten Suchterkrankungen.11 oder Zwangserkrankungen.12 Die ganze Bandbreite der Symptome lässt sich nicht in dieser Information nicht darstellen, dafür reicht die Zeit nicht.
Auf der Seite des Bundesverbandes ADHS-Deutschland (www.adhs-deutschland.de) jedoch kann man sich über die Erscheinungsweisen von ADHS in den verschiedenen Lebensaltern informieren.
Hier ein Einblick in die Symptome, die allen drei Lebensphasen gemein sind:
Stimmungsschwankungen (Affektlabilität), in der Regel Zerstreutheit und Unaufmerksamkeit, desorganisiertes Verhalten (Unordnung, fehlendes Zeitgefühl u.a.m.), Übererregbarkeit, Intoleranz gegen Langeweile (Menschen mit ADHS mögen Abwechslung und lieben „Kicks“, aber sie brauchen sie auch).


Die Ursache von ADHS
ADHS hat es immer schon gegeben. Es ist keine Modeerkrankung. hat eine starke genetische Disposition. D.h. es wird vererbt. Alkohol und Zigarettenkonsum in der Schwangerschaft können allerdings ebenfalls ADHS hervorrufen. In der Regel entdeckt man in einer Familie mehrere Angehörige, die Züge des ADHS haben. ADHS ist nicht grundsätzlich als Behinderung zu betrachten, sondern nur wenn die Dauer und Heftigkeit der Symptome das tägliche Leben beeinträchtigen.13 Neben der Vererbung spielen auch Umweltfaktoren eine entscheidende Bedeutung. Früher hat man ADHS ausschließlich durch den Einfluss äußerer Umstände erklärt, z.B. mit verfehlter Erziehung. Diese Betrachtungsweise ist einseitig, nicht selten ideologisch geprägt und führt in die falsche Richtung.Richtig ist stattdessen, dass ADHS eine genetisch bedingte, neurobiologische Besonderheit des Gehirnstoffwechsels darstellt. Die Bedingungen, in denen Menschen mit ADHS leben, fördern die Symptome.

Wie fühlen sich Menschen mit ADHS?
Betroffene merken früh, dass sie anders sind als andere. In der Regel merken sie es im Kindergarten- und Schulalter, wenn sie aus der Familie in eine größere Gruppe kommen. Dort wird von ihnen Aufmerksamkeit und das Einhalten von Regeln erwartet. Weil es ihnen nicht gelingt, ecken sie an oder stoßen auf Widerstand und Ärger. Viele Kinder entwickeln bereits in diesem Alter ein geknicktes Selbstwertgefühl. Sie sagen: „Ich bin ungezogen und dumm, weil die anderen mich für ungezogen und dumm halten.“ Wenn sie zudem von einer Teilleistungsstörung betroffen sind oder einem Tic, verstärkt sich dieser Eindruck. Eltern von Kindern mit ADHS geraten zunehmend in Verunsicherung. Sie halten sich für unfähig, ungeduldig und hilflos. Häufig wird dieser Eindruck von anderen verstärkt. ADHS bei einem Kind ruft immer Unsicherheit und Hilflosigkeit hervor. Die Unaufmerksamkeit, Unzuverlässigkeit oder Impulsivität führen alle an ihre Grenzen, sowohl die Kinder, wie die Eltern und die Pädagogen. Deshalb ist eine frühe Therapie von entscheidender Bedeutung.

Bei Jugendlichen verstärkt die Pubertät die Symptome des ADHS (bzw. umgekehrt, das ADHS verstärkt die Pubertät). Manche Betroffene kommen durchaus gut durch diese Lebensphase. Aber viele von ihnen (und deren Angehörige) müssen Kämpfe aushalten. Die möglichen Schwierigkeiten während der Pubertät lesen sich wie die Nebenwirkungen auf einem Beipackzettel.Ich will sie deshalb gar nicht im Einzelnen ausführen. Doch zu ihnen gehören extreme Stimmungsschwankungen, oppositionelles Verhalten, starke Impulsivität, Drogenmissbrauch, dissoziales Verhalten.
Auch Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Essstörungen können auftreten.14 Der Bundesverband ADHS-Deutschland hat speziell für dieses herausfordernde Alter eine E-Mail-Beratung ins Leben gerufen, bei der sich Jugendliche an Jugendliche wenden können. Je besser Jugendliche in dieser Zeit eingebettet sind in eine größere Gemeinschaft als die Familie, desto besser können sie sich entwickeln und entfalten. Die Bedeutung einer Jugendarbeit in der Gemeinde kann nicht hoch genug eingeschätzt werden in diesem Zusammenhang. Sinnvoll ist es für Eltern mit ADHS-Kindern eine Gesprächs- oder Selbsthilfegruppe aufzusuchen. Allein der Umstand, dass man sich den gleichen Herausforderungen stellen muss, ist schon eine große Hilfe. Vor allem während der Pubertät ist ein verlässliches Umfeld sehr wichtig für die Jugendlichen und deren Eltern.

Im Erwachsenenalter treten die primären ADHS-Symptome in den Hintergrund bzw. sie bekommen einen anderen Charakter. Die Zeit- und Arbeitsorganisation ist unzureichend, es klappt nicht mit den Beziehungen, die motorische Unruhe wird zur inneren Unruhe, zur steppenwölfischen Getriebenheit, die Unsicherheit, die das ganze Leben prägt, verstärkt sich und wird zur Depression.
Begleiterkrankungen wie Depressionen stehen in der Regel im Vordergrund: Vom Burn-Out bis zur Kaufsucht, von Adipositas (Übergewicht) bis zu Panikattacken. Zuerst müssen die akuten Begleiterkrankungen behandelt werden, bevor man sich dem ADHS zuwendet. Allerdings unterscheidet sich die Behandlung eines ADHS-Betroffenen von der eines Erkrankten ohne ADHS. Eine Psychoanalyse etwa ist sicherlich förderlich. Das Mittel erster Wahl ist sie jedoch nicht.
Bemerkenswert ist, dass, wenn ein ADHS entdeckt und medikamentös behandelt wird, stellt sich sehr oft eine enorme Verbesserung der Lebensqualität ein. Man kann sich plötzlich besser konzentrieren und ist dadurch entspannter. Man reagiert seltener cholerisch oder überempfindlich und wirkt ausgeglichener. Haushalt und Beruf lassen sich besser bewältigen und kann so dem Gefühl entkommen, beständig zu scheitern. Die Gabe von Medikamenten ist das Mittel erster Wahl. Ein Allheilmittel ist es jedoch nicht. Als Faustregel für den Einsatz von Medikamenten gilt: „Der Einsatz von Medikamenten ist nicht zwingend erforderlich, aber in vielen Fällen wünschenswert und in wenigen unumgänglich“15
Wesentlich für Menschen mit ADHS ist, dass sie sich Helfer und Begleiter suchen (Coaching) und einen Rahmen finden, in dem sie mit ihren ADHS-Seiten gut weiterkommen. Dies gilt insbesondere für den Beruf. Das schließlich führt mich zum letzten Teil des Informationsabends: Er beschäftigt sich mit zwei Fragen: Welche guten Anlagen verbergen sich im ADHS? Warum ist heute von ADHS so oft die Rede?



II. Teil

Welche guten Anlagen verbergen sich bei Menschen mit ADHS?
Das Einzigartige und Besondere an der Betroffenheit von ADHS ist, dass es nicht nur Nachteile hat. Menschen mit ADHS können großartige Dinge hervorbringen. Ihre Art an die Welt heranzugehen, kann eine große Bereicherung bedeuten. In bestimmten Situationen können sie geradezu brillante, innovative Einfälle haben. Sie ahnen, dass etwas in ihnen steckt, aber sie stolpern über ihre Defizite und können ihre Begabungen nicht erreichen. Betroffene erleben sich im Zwiespalt: Sie wissen, dass sie anders sind, ohne sagen zu können, was anders an ihnen ist. Diese Zwiespältigkeit, diese „andere Art die Welt zu sehen“ (Thom Hartmann), lässt sie eine Perspektive einnehmen, die ihnen andere Einsichten gewährt. Und tatsächlich findet man unter Künstlern, Wissenschaftlern und Erfindern nicht wenige, die ADHS-Symptome zeigen und vermuten lassen, davon betroffen gewesen zu sein. Man glaubt bei Mozart, Einstein und Franklin Merkmale von ADHS entdecken zu können, ebenso bei Astrid Lindgren, der wunderbaren Dichterin Emily Dickinson und Edgar Allan Poe. Persönlichkeiten der Gegenwart wie Dustin Hoffman, Bill Gates oder Whoopie Goldberg sind davon betroffen. Natürlich sind diese Menschen, nur weil sie eine große Begabung in sich trugen oder tragen, nicht deswegen auch glückliche Menschen. ADHS ist beides: Bereicherung und Grenze, Handicap und Gewinn. Die Gaben liegen neben den Beschränkungen. In der folgenden Liste stelle ich den Symptomen des ADHS positive Eigenschaften gegenüber.In diesen Verbindungen tritt ADHS nicht auf. Die Gegenüberstellung soll deutlich machen, dass bei ADHS sowohl mit Herausforderungen und Problemen wie mit sehr gewinnenden Eigenschaften zu rechnen ist. Beides, Gaben und Grenzen sollten im Blick behalten werden. Dieser Blickwinkel hilft, um ADHS anzunehmen, insbesondere, wenn die Symptome alle zu überfordern und erschöpfen drohen.

Unaufmerksamkeit Kreativität/ Einfallsreichtum
Dissoziales Verhalten Gerechtigkeitssinn
Übererregbarkeit/ Nervosität Einfühlungsvermögen/ Sensibilität
Zerstreutheit/ Vergesslichkeit/ Desorganisation Zielstrebigkeit (wenn ein Ziel vorhanden ist)
Stimmungsschwankungen/ Labilität Charisma/ mitreißendes, herausforderndes Wesen
Hyperaktivität Sportlichkeit
Jähzorn und/ oder Depressivität Einladender Charakter
Impulsivität/ Kurzschlussreaktionen Innovatives Querdenken

Menschen mit ADHS muss es gelingen, ihre Gaben zu erreichen.
Dafür müssen sie Verantwortung übernehmen, sowohl für ihre Gabenseite wie für diejenige Seite, die ihnen und anderen Schwierigkeiten bereitet. Natürlich trifft dies auf alle Menschen zu. Aber Menschen mit ADHS sind unmittelbar darauf angewiesen.
Verantwortung ist ein Schlüsselbegriff für den Umgang mit ADHS.
In Bezug auf betroffene Erwachsene schreibt Lynn Weiss: „(d)ie Verantwortung, mit ihrer Situation zurande zu kommen, liegt bei Ihnen.“16 D.h. Erwachsenen mit ADHS müssen begreifen, dass es nicht die Aufgabe ihrer Angehörigen, Freunde, Gemeinde usw. ihre Symptome zu tragen bzw. zu ertragen. Man kann sie als Partner, Freund, Kollege begleiten, helfen und unterstützen. Mit ADHS ins Reine zu kommen, ist Sache des Betroffenen allein.Bei Kindern und Jugendlichen ist das s elbstverständlich etwas anderes. Sie können noch keine Verantwortung für sich übernehmen. Sie müssen es lernen. Das bedeutet für insbesondere für die Eltern sehr oft, Hilf- und Kraftlosigkeit bis hin zur Erschöpfung. Ihnen sei gesagt:
Gehen Sie bewusst mit ADHS um; Ihre Geduld ist stärksten Herausforderungen ausgesetzt. Seien Sie ehrlich zu sich: „Ich liebe mein Kind. Aber es kostet mich auch ungemein viel Kraft. Manchmal habe ich die nicht mehr.“
Suchen Sie sich unbedingt Hilfe. D.h. Menschen die Ihnen gut tun, Fachleute, mit denen Sie sprechen können. Freunde, die Ihnen unter die Arme greifen.
Schweigen Sie nicht. Suchen Sie das Gespräch. Suchen Sie es rechtzeitig und nicht, wenn die Wogen über Ihnen zusammenschlagen. Gehen Sie nach Möglichkeit offen mit Pädagogen um, vermeiden Sie Konfrontationen.
Informieren Sie sich. Aufklärung, nicht Medikamente, ist der erste Schritt, mit ADHS zu Recht zu kommen. Wenn Sie können, suchen Sie sich eine Gesprächsgruppe. Sie sind nicht allein.

Warum ist heute so oft die Rede von ADHS?
Zunächst: ADHS ist eine bekannte Erscheinung, es gibt keine Zunahme des ADHS, der Anteil der Betroffenen ist konstant. Die Zahl der Diagnosen und die Zahl der Behandlungen mit Ritalin, Concerta u.a. nimmt enorm zu, warum? Ich sehe zwei Ursachen dafür: Der erste Grund liegt in der gegenwärtigen Versorgungslage im Hinblick auf ADHS. Es gibt noch nicht ausreichend Spezialisten für ADHS bei Kindern und erst recht für betroffene Erwachsene; das Erwachsenen-ADHS ist in Deutschland erst seit 3 – 4 Jahren als Phänomen anerkannt. Oft werden dann aus Unkenntnis oder mangelnder Zeit für die Diagnose vorschnell Medikamente verschrieben und ADHS attestiert. Wir sind zwar in Deutschland auf einem guten Weg. Aber noch ist es schwierig.Deshalb wird ADHS oft zum Gesprächsthema.
Als zweiten Grund sehe ich folgendes: ADHS eignet sich, um einem diffusen Störungsbild einen Begriff zu geben und es dadurch einzugrenzen. ADHS ist dann nicht Ausdruck einer Störung, sondern es ist Ausdruck von Hilflosigkeit. Gründe für diese Hilflosigkeit sind beispielsweise: Das Ablenkungspotential durch Handys, Smartphones, Konsolen u.a. ist enorm gestiegen. Das Vermögen, mit Widerstandskraft und Flexibilität seinem Alltag zu begegnen (sog. Resilienz) ist gesunken. Das Freizeitverhalten hat sich in den letzten 30 Jahren radikal verändert (Rückgang der Freiräume zum Spielen, Rückgang des Bücherlesens usw.)17 Die zunehmende Desorganisation unserer Arbeits- und Schulwelt ist Grund für zunehmende Überforderung, Unzufriedenheit und Verunsicherung.18 Der wachsenden Verunsicherung geschuldet ist zweifellos auch der Verlust von Werten und Richtlinien. Die Anforderungen wachsen in unserer Leistungsgesellschaft, aber persönliche Grenzen werden vielfach nicht mehr wahrgenommen und respektiert (vgl. Mobbing).
Das ist ein Widerspruch, der Extreme hervorbringt, die gerade Betroffenen sehr zu schaffen machen. Es geht mir nicht um Werte um der Werte willen. Aber Orientierungslosigkeit und Desorganisation verstärken die Symptome des ADHS und verhindern, dass Betroffene ihre guten Seiten ergreifen können. Sie müssen um die Grenzen in ihrem Inneren ringen und sich um Aufmerksamkeit und Ausgeglichenheit bemühen. In einer von Extremen geprägten Umwelt ist das sehr schwer. Was Menschen mit ADHS brauchen, sind Orte und Menschen, wo sie mit Respekt rechnen können. Dieser Ort kann die Gemeinde sein. Diese Menschen können Christen sein. Ich möchte zum Schluss ein Zitat vorlesen, das diesen Gedanken unterstreicht.
Es stammt von Thomas Willis White. Er war der Besitzer einer Zeitung, für die der Dichter Edgar Allan Poe arbeitete. Dieses Zitat zeigt, wie aufrichtiger, christlicher Respekt aussieht. White war ein Christ. Er mochte und schätzte Poe sehr, obwohl Poes Trunksucht, eine Folge seines ADHS, allen, die es mit ihm zu tun hatten, sehr zu schaffen machten. Folgende Zeilen schrieb White an Poe: „Lieber Edgar … Wenn Sie sich nur auf Ihre eigene Kraft verlassen, sind Sie verloren. Bitten Sie Ihren Schöpfer um Hilfe, und sie werden gerettet werden. … Wenn Sie sich dazu entschließen könnten, bei mir oder in einem anderen Privathaus Quartier zu nehmen, wo es keinen Alkohol gibt, gäbe es Hoffnung für Sie. … Sie haben so viel Begabung, Edgar, und Sie sollten sie achten wie sich selbst. Lernen Sie sich selbst achten, und Sie werden bald feststellen, dass Sie geachtet werden.“20
Die Gemeinde und ihre Menschen kann ein Ort sein, wo man geachtet wird, damit Menschen mit ADHS hier lernen, sich selbst zu achten.

Zitate
1 Paul Wender: Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität ADHS bei Erwachsenen, in: Hyperaktivität, hrsg. V. K. Skrodzki u. K. Mertens, Dortmund 2000, S. 65.
2 Klaus Skrodzki, Leben mit Hyperaktivität in Deutschland vor der Jahrtausendwende, in: Ders., Hyperaktivität, a.a.O., S. 10.
3 Wolfdieter Jenett: ADHS, Paderborn 2011, S. 12.
4 Eckart von Hirschhausen: Humor ist, wenn man später kommt, in: Neue Akzente, 91/1/2012, S. 24.
5 Vgl. Detmar Roloff: Hermann Hesse, ein beispielhafter Fall?, in: Bundesverband Aufmerksamkeitsstörung/ Hyperaktivität, Jahrbuch 2002, S. 52ff.Vgl. Detmar Roloff: Hermann Hesse, ein beispielhafter Fall?, in: Bundesverband Aufmerksamkeitsstörung/ Hyperaktivität, Jahrbuch 2002, S. 52ff.
6 Vgl. Uwe Metz: Die Hellsicht des Zwiespaltes, Aachen 2008, S. 35f.
7 Vgl. Lynn Weiss: ADS im Job, 2. Aufl., Moers 2007, S. 18.
8 Vgl. Klaus Skrodzki: Leben mit Hyperaktivität, a.a.O., S. 39
9 Vgl Art.: ADHS
10 Klaus Skrodzki: Leben, a.a.O., S. 31
11 Vgl. Uwe Metz: Hellsicht, a.a.O., S. 15; Martin Ohlmeier: ADHS und Sucht, in: Neue Akzente 83/3/2009, S. 4ff. oder Zwangserkrankungen.
12 Vgl. Paul Wender: Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom a.a.O., S. 53f.
13 Vgl. Uwe Metz: Hellsicht, a.a.O., S. 11; Wolfdieter Jenett, a.a.O., S. 176; Johannes Streiff: Wer ist schon gerne behindert, in: Neue Akzente 88/1/2011, S. 19.
14 Vgl. Helga Simchen: Essstörungen bei Jugendlichen, in: Neue Akzente 87/472010, S. 7ff.
15 Wolfdieter Jenett, a.a.O.,S. 14.
16 Lynn Weiss, zit. in: Uwe Metz, Hellsicht, a.a.O., S. 53).
17 Vgl. Klaus Skrodzki, ADHS – Herausforderung einer Gesellschaft im schnellen Wandel, in: Neue Akzente 91/1/2012, S. 4ff.
18 Vgl. Uwe Metz: Facetten des ADHS, in: Neue Akzente, 88/1/2011, S. 23.
20 Thomas W. White, zit. In: UweMetz, Hellsicht, a.a.O., S. 28f.

Dienstag, 4. September 2012

Petrus hatte ADHS

Andacht am 25.9.2011 im Caritas-Haus, Feldberg anlässlich der gemeinsamen Mitgliederversammlung der Landesverbände Hessen und Baden-Württemberg.


Petrus hatte ADHS. Das ist eine stramme Behauptung.
Ich habe sie von einer Freundin aufgeschnappt, als wir uns im Hauskreis beieinander waren.
Ein Hauskreis ist ein regelmäßiges Treffen von Christen außerhalb eines Gottesdienstes.
Man kann dort über Dinge des Glaubenslebens besser und persönlicher sprechen als in der Kirche.
Wir lesen dort auch gemeinsam in der Bibel.
An einem Abend lasen wir die Geschichte, als Simon Petrus im Sturm Jesus auf dem Wasser entgegenkommen wollte (Mt. 14,22ff).
Simon Petrus ist der bekannteste Jünger Jesu. Sein ursprünglicher Name war Simon. Später hat er den Beinamen Petrus bekommen, unter dem er heute bekannt ist.
Petrus heißt Fels oder Stein.
Den Namen erhielt er von Jesus: Du bist Simon; du sollst Petrus, der Fels heißen. (vgl Joh. 1,42)
Fels deshalb, weil Simon später eine führende Rolle in der christlichen Gemeinde einnahm.
In dieser Geschichte geht es allerdings darum, dass er beinahe wie ein Stein im Wasser versunken wäre.
Ich erzähle sie kurz:
Jesus war als Wanderprediger unterwegs.
Er und seine Jünger bereisten die Gegend im Norden Israels, in der der See Genezareth liegt.
Sie hatten einen langen, anstrengenden Tag hinter sich.
Denn es kamen täglich viele Leute zu ihnen, während sie durch die Lande zogen.
An diesem Abend sagte Jesus zu seinen Jüngern, sie mögen zum Strand des Sees Genezareth gehen, um mit einem ihrer Boote ans andere Ufer überzusetzen.
Er käme nach, sobald er die Leute nach Hause geschickt hatte.
Jesus wollte auch die Gelegenheit nutzen, um allein zu sein und zu beten.
Der ständige Betrieb kostete ihn Kraft.
Die Jünger machten sich auf den Weg. Es waren kernige Fischer vom See Genezareth, die mit Booten gut umgehen konnten.
Als sie sich aber mitten auf dem See befanden, erhob sich ein starker Wind.
Trotz ihrer Berufserfahrung gerieten sie in arge Bedrängnis.
Denn dieser Wind, ein regelrechter Sturm, forderte alle Kraft von ihnen.
Sie plagten sich die ganze Nacht.
Mitten in der Nacht sahen sie plötzlich eine Gestalt auf sich zukommen.
Und zwar auf den Wellen.
Dieser Anblick war für sie ebenso unglaublich wie für uns heute.
Sie dachten, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen und sie sähen schon Gespenster.
Aber es war Jesus.
Er sprach zu ihnen, um sie zu beruhigen: „Fürchtet euch nicht, ich bin es.“
Ich schätze, wenn mir jemand während eines nächtlichen Seesturms auf dem Wasser entgegenkommt und sagt, ich solle keine Angst haben, wird es mir eher schwer fallen, mich zu beruhigen.
Die Jünger im Boot schlotterten vor Angst. Und zwar nicht nur aus Angst vor dem Sturm, sondern auch aus Angst, den Verstand zu verlieren.
Bis auf einen, Simon Petrus. Er reagierte völlig anders als die anderen.
Er ergriff die Gelegenheit und verlangt von Jesus: „Jesus, wenn du es wirklich bist, dann sage mir, dass ich auf dem Wasser zu dir kommen soll.“
Jesus antwortete ihm: „Komm!“ und Simon verließ das Boot.
Simon Petrus ging tatsächlich einige Schritte auf Jesus zu, aber angesichts des heftigen Windes bekam er Angst und begann im Wasser zu versinken.
Er schrie nach Jesus: „Herr, rette mich!“ und Jesus zog ihn empor.
Er fragte Simon: „Du hast mir geglaubt, auf dem Wasser zu gehen, warum hast du nach ein paar Schritten gezweifelt?“
Als die beiden ins Boot zurückgekehrt waren, legte sich der Wind und alle Jünger riefen: „Jesus, du bist wirklich Gottes Sohn!“
Soweit die Geschichte.
Nachdem wir die Geschichte gelesen hatten, rief die Freundin aus dem Hauskreis: „Im Sturm aus dem Boot zu steigen und übers Wasser zu gehen, was für eine abgefahrene Idee! Typisch ADHS! Petrus hatte ADHS.“
Wir haben natürlich gelacht. Es ist eine witzige Idee, Simon, der vor 2000 Jahren lebte mit etwas so modernem wie ADHS in Verbindung zu bringen.
Aber die Bemerkung ist bei mir haften geblieben. Denn etwas in dran an ihr.
Versetzen Sie sich ins Boot der Jünger:
Sie erleben eine völlig unglaubliche, ja irrwitzige Situation. Kein normaler Mensch käme auf den Gedanken, solch eine Situation auszunutzen.
Aber Simon Petrus war offenbar nicht normal. Er zeigt hier die typischen Verhaltensweisen eines Menschen mit ADHS:
Er reagiert mutwillig, impulsiv, redet, bevor er nachdenkt und macht einfach, was ihm durch den Kopf schießt.
Typisch ADHS.
Doch die aberwitzige Situation setzt sich weiter fort.
Jesus fordert Simon Petrus tatsächlich auf, das Boot zu verlassen und zu ihm zu kommen.
Nach ein paar Schritten auf den Wellen muss Simon Petrus allerdings zur Besinnung gekommen sein.
Was er tat, war völlig unglaublich.
Und prompt versinkt er im Wasser.
Es ist so, als hätte der Glaube an Jesus ihn in die Lage versetzt, über das Wasser zu gehen.
Doch in dem Moment, da die Angst seinen Glauben wegspült, geht er unter.
Er schrie um Hilfe und Jesus muss ihn aus den Wellen ziehen.
Das ist auch typisch für Leute mit ADHS: Sie setzen sich einer unmöglichen Situation aus, rutschen ab und andere müssen dann dafür sorgen, dass sie wieder auf die Beine kommen.
Leute mit ADHS verwechseln regelmäßig Mut mit Mutwillen.
Es sind Leute, die mit Begeisterung aus einem Flugzeug springen, um plötzlich festzustellen, dass sie keinen Fallschirm dabei haben.
Simon Petrus wird im Verlauf seines Lebens noch manche solcher Dinger drehen.
Ein berühmtes Beispiel ist sein Verrat an Jesus:
Erst gelobte er vollmundig, immer zu Jesus zu stehen und ihn selbst in Todesgefahr nicht zu verlassen.
Dann aber scheiterte er kläglich, verrät seinen Herrn drei Mal nur Stunden später.
Ich habe Simon nie als einen unaufrichtigen Menschen gesehen; in dem Moment, da er etwas ausspricht oder unternimmt, ist er ganz dabei.
Aber es hielt eben nur einen Augenblick. Simon erschien mir zu wechselhaft und ungefestigt.
Wie eigenartig, dass Jesus ausgerechnet ihn zum Petrus, zum Felsen macht.
Ich glaube, es gibt einen Grund dafür, ich glaube, Simon war für Jesus ein besondere Stein, ein Rolling Stone.

Das hat folgenden Grund:
Wenn sich jemand von uns auf eine Arbeitsstelle bewirbt, achtet er darauf, dass sich im Lebenslauf ein Lebens- und Berufsabschnitt an den anderen anfügt.
Es muss ein roter Faden in der Biographie zu erkennen sein.
Brüche, z.B. plötzliche Berufswechsel oder abgebrochene Studiengänge oder angebrochene Ausbildungen machen sich nicht gut.
Brüche vermitteln den Eindruck, dass der Bewerber wechselhaft ist und Dinge nicht zu Ende bringt.
Ein beruflicher Lebenslauf muss Festigkeit, Verlässlichkeit und Verbindlichkeit vermitteln.
Dies signalisiert einem Arbeitgeber, dass der Bewerber konsequent, zielstrebig und vertrauenswürdig bei der Sache sein wird.
Ein Arbeitgeber muss sich auf seinen Angestellten verlassen können.
Solch ein Typ war Simon nicht gerade: Er war nicht der Typ, der abwog und überlegt handelte, sondern überholte sich gerne selbst rechts, war entweder tollkühn oder voller Furcht.
Wenn Jesus Simon genauso bewertet hätte wie ein Arbeitgeber einen Bewerber, hätte er ihn zweifellos nicht zum Felsen, zum Petrus berufen.

Aber Jesus bewertete ihn nicht in dieser Weise. Er hatte etwas anderes im Blick:
Simon war ein Mensch, der sich in Bewegung setzten ließ.
Alle anderen Jünger blieben im Boot, Simon stieg aus.
Simon war kein fester, unnachgiebiger Granitfelsen.
Er war ein Rolling Stone – ein rollender Stein, er ließ sich von etwas bewegen.
Jesus weiß die Rolling Stones unter den Menschen wertzuschätzen.
Rolling Stones sind Menschen, die neugierig und beweglich genug sind. Dass sich der Glaube in ihnen verwurzeln kann.
Und so ist die große Glaubenserfahrung dieser Sturmnacht nicht, dass Simon wider alle Natur übers Wasser lief.
Die große Glaubenserfahrung war diejenige, dass Simon, Hilfe von Jesus bekam, als ihn aller Mut verließ.
Nur Menschen, die sich in Bewegung setzen lassen, machen solche Erfahrungen. Sie erleben das Leben wirklich.
In dieser Hinsicht haben Menschen mit ADHS einen Vorteil.
Sie teilen die Rolling-Stone-Eigenschaften von Petrus:
Sie haben eine natürliche Neigung, sich auf das Leben wirklich einzulassen.
Es heißt, unter den Neugierigen dieser Welt, Leuten, die ähnlich gestrickt sind wie Simon, gibt es viele Menschen mit ADHS.
Und das ist gut. Es ist eine große Gabe.
Doch wie schätzen wir uns selbst ein? Wir tendieren dazu, unser Leben im Blick auf unsere Mängel und Defizite anzusehen.
So als befänden wir uns in einem ständigen Bewerbungsgespräch und rechneten damit, dass uns jemand aufgrund unserer Defizite ablehnt.
Darüber verlieren wir aus dem Blick, dass diese Mängel in Verbindung mit besonderen Gaben stehen.
Simon war sprunghaft, impulsiv, mutwillig.
Und er war neugierig und leidenschaftlich – ein Mensch, der sich in Bewegung setzen ließ.
Ich bin überzeugt, Jesus hatte diese Fähigkeiten erkannt und ihnen solch großen Wert beigemessen, dass Simon für ihn ein Fels wurde.
Die Geschichte dieser Nacht ist eine Glaubensgeschichte. Und es ist eine Geschichte der Wertschätzung.
Die Tiefe der Geschichte lässt sich zugegebenermaßen nur im Glauben ergreifen.
Doch möchte ich Sie eines wissen lassen, gleichgültig ob oder in wie weit für Sie der christliche Glaube eine Rolle in Ihrem Leben spielt: Sie können von der besonderen Beziehung zwischen Jesus und Simon lernen.
Achten Sie Ihre Fähigkeiten. Schätzen Sie sie Wert.
Jeder von uns hat Mängel und Defizite. Nur bei Menschen mit ADHS sind sie sehr offensichtlich.
Deshalb neigen wir dazu, diesen Mängeln viel Platz in unserem Leben einzuräumen.
Aber das ist nur ein Teil unseres Lebens.
Der andere Teil sind Gaben, Möglichkeiten und Chancen.

Als Jesus den sinkenden Petrus aus den Wellen emporzog, zog er auch die Möglichkeiten und Fähigkeiten, die er an Petrus erkannte, mit empor.
Es war für Simon Petrus zweifellos sehr schmerzlich, sich selbst derartig scheitern erleben zu müssen.
Aber Jesus ließ ihn dort nicht. Indem er ihm half, hinderte er die Wellen des Selbstzweifels über ihm zusammenzubrechen.
Weil er wusste, was er an Simon Petrus hatte und es wertschätzte.

Jesus hatte in Simon vor allen Dingen einen vielversprechenden Menschen vor Augen.
Einen Menschen mit offensichtlichen Mängeln und einen Menschen mit großen Möglichkeiten.
„Die Stärke eines Menschen zeigt sich in der Blöße, die er sich selber gibt.“ (Elazar Ben Yoetz).
Simon zeigt viel Blöße und gerade deshalb konnte Jesus etwas mit ihm anfangen.
Simon war ein Menschen, den er von ganzem Herzen achtete und wertschätzte und den er deswegen nicht dem Sturm aus Angst und Wellen überließ.
Ich wünsche uns sehr, dass wir diese Wertschätzung finden und sie weitergeben können.

Jakobsweg

Andacht vom 29.4.2012
Mitgliederversammlung Böblingen

Die Helden aus der Bibel bieten wunderbare Gelegenheiten, um an ihre Geschichten anzuknüpfen. Bestimmten Personen fühle ich mich besonders nahe. Sie spiegeln etwas von mir, und ich erkenne mich in ihnen wieder. Eine meine Lieblingsgestalten ist Jakob. Seine Leben zeigt, wie Gott auf krummen Linien eine Segensgeschichte schreibt. Das ist ungemein herausfordernd und ermutigend. Als jemand, der von ADHS betroffen ist, habe ich – wie viele andere – die Erfahrung gemacht, dass mein Leben nicht in direkter Linie von einem zum anderen Ort führt. Wie bei Jakob. Er ist eine der widersprüchlichsten, widerspenstigsten, sozusagen kurvenreichsten Figuren der Bibel. Deshalb fasziniert er mich.

Die Widerspenstigkeit lag Jakob bereits in der Wiege. Er hatte einen älteren Zwillingsbruder, Esau. Esau würde, weil er der Erstgeborene war, das Erbe zufallen. Er würde das Oberhaupt der Familie werden und den Erstgeburtssegen erhalten.
Jakob jedoch konnte es nicht ertragen, hinter Esau der Zweite zu sein. Dieser Gedanken setzte sich in ihm fest, hatte sich gleichsam in ihn festgeschraubt. Er wollte nicht hinter seinem älteren Bruder zurückstehen. Er wollte den Erstgeburtssegen.
Um sich durchsetzen, ging er bis zum Äußeren. Er entschloss sich, den Segen durch Betrug zu bekommen. Das war kein Kavaliersdelikt. Der Segen war heilig und einmalig. Er konnte nur einmal ausgesprochen werden, so wie ein Erbe nicht zweimal verteilt werden kann.
Aber Jakob blieb unbeirrbar und eigensinnig: Als Isaak, der Vater von Jakob und Esau wusste, dass er bald sterben würde, beschloss er Esau zu segnen. Isaak war krank und blind und das nutzte Jakob aus. Er verstellte sich, tat so, als wäre er Esau und erhielt den Erstgeburtssegen des Vaters.

Bemerkenswerterweise empfand er den Segen, nachdem er ihn erhalten hatte, nicht als Gewinn. Im Gegenteil. Plötzlich stellte sich Ernüchterung ein. Jakob wurde sich der Konsequenzen dessen bewusst, was er getan hatte. Er hatte seinen Vater und seinen Bruder hintergangen und zwar in einer Weise, die sich nicht gut machen ließ durch ein einfaches „Entschuldigung! Ich bin ein bisschen zu weit gegangen.“ Seine Widerspenstigkeit und sein Widerspruchsgeist, von denen er sich so sehr hatte herausfordern lassen, verursachte eine dramatische Lage. Und dies nicht nur für ihn: Seine Familie zerriss. Er musste vor der Rache seine Bruders fliehen. Die Schuld durch den Betrug war eine Last, die er nicht mehr abschütteln konnte. Der Segen, den er so sehr begehrt hatte, war ihm zum Fluch geworden.

Der erste Anknüpfungspunkt – verzerrte Ziele. Man gibt sich auf Biegen und Brechen einem Begehren hin und unterschätzt in seiner Unbeirrbarkeit die Gefahr, dass tatsächlich etwas zu Bruch gehen könnte.

Thomas Alva Edison, einer der berühmten Menschen mit ADHS, zerstritt sich mit einem Konkurrenten derart, dass aus seinem verbissenen Bemühen seinen Gegner in die Knie zu zwingen, eine barbarische Erfindung hervorging. Edison wollte zeigen, dass die Stromart, die sein Konkurrent einsetzte, lebensgefährlich für den Menschen war. Er bewies es, indem er ein Hinrichtungsgerät erfand, das mit diesem Strom betrieben wurde: Der elektrische Stuhl.

Sich einem verzerrten und verzehrendem Ziel hingegeben, das ist Jakob widerfahren und das bestimmte von nun an sein Leben. Es ließ ihn zum beständig Flüchtenden werden. Eine Flucht, die sich zum Teil ihre Ursache in der Rache seines Bruders hatte. Zum Teil aber floh er aber auch, weil er nicht ertrug, was er Esau und seinem Vater angetan hatte. Die große Lektion, die Gott Jakob zumutete, bestand darin, dass Jakob in eine Situation geriet, der er nicht durch Flucht entrinnen konnte. Eines Tages würde er sich dem stellen müssen, was er getan hatte. Doch bis zu diesem Zeitpunkt irrte und wirrte Jakob durchs Leben. Er heiratete zweimal, einmal sozusagen aus Versehen. Sein schlitzohriger Onkel Laban lässt ihn die eigene Medizin schmecken und trickst ihn nach Strich und Faden aus. Der Segen, nach dem ihm so verlangt hatte, wäre Jakob am liebsten wieder losgeworden, weil ihn das Gewissen plagte und er Angst vor Esau hatte.

Der zweite Anknüpfungspunkt: Das Sich-In-Krummen-Linien-Fortbewegen, das Hakenschlagen und In-Unmögliche-Situationen-Geraten ist etwas typisch ADSlerisches. Uns sitzt der Aberwitz im Nacken. Wenn wieder etwas geschah, das alles durcheinander brachte, möchten wir ihn am liebsten lossein: Aus einer Beziehung in die nächste getaumelt, die eigenartigerweise der ersten in vielen Zügen ähnelt. Beim neuen Arbeitsplatz zeichnet sich dasselbe Malheur ab wie beim letzten. Es ist verhext, enttäuschend, ermüdend. Es liegt am komischen ADS-Schicksal. Der Aberwitz reizt und schüttelt einen, lässt sich aber nicht abschütteln. Wie bei Jakob: Er konnte machen, was er wollte: Sich selbst wurde er einfach nicht los, trotz der Haken, Listen und Kniffe die er anwendete.

Und dann kam das Ende. Jakob musste seinem Bruder gegenübertreten. Es gab keine Ausflucht mehr. Jakob war mittlerweile ein wohlhabender Mann geworden, ein Familienoberhaupt mit vielen Kindern. Der Unglückssegen hatte sich erfüllt.

Aber auch Esau war Herr über eine mächtige Sippe geworden. 400 wehrfähige Männer gehörten zu seinem Gefolge und mit diesem kam er Jakob entgegen. Am Fluss Jabbok würden sie einander begegnen. Jakob würde büßen für seinen Betrug. Doch – und das war das Schlimme – nicht nur er, sondern auch seine Familie. In der Nacht vor der Begegnung fand Jakob keine Ruhe. Er verließ das Lager, um ans Ufer des Jabbok zu gehen. Dort traf er auf Gott. Und mit Gott traf er auf all das, dem er Zeit seines Lebens ausgewichen war.
In der Bibel heißt es, Jakob und Gott rangen miteinander und als der Morgen anbrach, ließ Gott sich von Jakob überwältigen. „Segne mich!“, verlangte Jakob von Gott bevor er ihn gehen ließ. „Segne mich und ich lasse dich.“ Dieser ungewöhnliche Siegespreis zeigt, dass es nicht um Gewinner und Verlierer in einem Ringkampf geht. Jakob wusste, dass ihm ein Kampf bevorstand, den er nicht gewinnen konnte. Gegen Esau würde er unterliegen. Ohne den Segen Gottes wollte er nicht ins Unausweichliche gehen. Aber er musste um den Segen kämpfen.

Der dritte Anknüpfungspunkt:: Was groß und segensreich ist, lässt sich nur ergreifen, wenn wir darum ringen. Segen ist nicht das gleiche wie Glück. Glück fällt uns zu, Segen kostet. Die Bibel erzählt, dass Jakob von diesem Kampf eine Verletzung an der Hüfte davontrug. Seit der Nacht am Jabbok hinkte er. Dieses Hinken macht deutlich, wie viel Segen kosten kann.

Dieser Punkt ist mir der wichtigste. Ich bin überzeugt, dass jeder von Ihnen ein Segensträger ist. Ich bin überzeugt, dass jeder von Ihnen eine einmalige, große Begabung in sich trägt. Als Menschen mit ADHS wissen wir, wie schwer es ist, an diese Begabung heranzukommen. Sie liegt tief verborgen unter einem Berg unglücklicher Erfahrungen, eines gestauchten Selbstbewusstseins, eines kurven- und hindernisreichen Lebenswegs. Im Unterschied zu Jakob hinken wir schon vorher und würden am liebsten all das abschütteln, was das ADHS mit sich bringt. Dennoch bin ich überzeugt, dass jeder von Ihnen ein Segensträger ist, nicht trotz, sondern wegen Ihres ADHS. Und so, wie sich der Segen Jakobs erst entfaltete, als er darum rang, so sage ich Ihnen zu, dass es sich lohnt, um Ihren Segen zu ringen. Wenn ich früher sehr zerrissen, sehr erschöpft und entmutigt war, las ich einen wunderbaren Text von Martin Luther King:

„Wenn unsere Tage verdunkelt sind
und unsere Nächte finsterer als tausend Mitternächte,
so wollen wir stets daran denken,
dass es in der Welt eine große, segnende Kraft gibt, die Gott heißt.
Gott kann Wege aus der Ausweglosigkeit weisen.
Er will das dunkle Gestern
in ein helles Morgen verwandeln –
Zuletzt in den leuchtenden Morgen der Ewigkeit.“

Diese wunderbaren Worte habe ich immer in meiner Brieftasche bei mir. Sie geben mir viel Kraft und im wahrsten Sinn notwendige Zuversicht, mich nicht gänzlich der Erschöpfung und Enttäuschung hinzugeben. Mein Leben vollzog sich deswegen nicht in weniger kurvenreichen Bahnen. Aber der große, segnende Bogen Gottes umschließt mich.


Zum Schluss will ich Ihnen noch kurz erzählen, was aus Jakob wurde, nachdem er nach seinem Kampf am Jabbok in die aufgehende Sonne davonhumpelte.

Am nächsten Tag begegnete er seinem Bruder. Esau lief ihm entgegen, aber nicht um sich an ihm zu rächen, sondern um sich mit ihm zu versöhnen. Esau hatte nie vorgehabt, sich Genugtuung zu verschaffen. Er wollte den Riss zwischen ihm und Jakob schließen. Das zweite, was mit Jakob geschah, war, dass er mit dem Segen auch einen neuen Namen erhielt, einen Segensnamen gewissermaßen. Dieser Name ins Deutsche übersetzt, hat die Bedeutung „Du hast mit Gott gekämpft und mit Menschen“. Auf Hebräisch lautet er „Israel“.

Jakob, der Widerspenstige, Hakenschlagende und Hinkende setzte den Anfang einer großen, einmaligen Geschichte.

Vertrauen auch Sie Ihren Gaben, so verborgen sie auch liegen. Vertrauen Sie Ihrer Geschichte. Sie wird, allem Hinken zum Trotz, umschlossen vom großen Segensbogen Gottes.

Dienstag, 7. Juni 2011

ADHS in der Schule

ADHS in der Schule
Vortrag an der Grund- und Hauptschule Jettingen
am 7.6.2011


I. Einleitung
II. Hauptteil
1. Wie erscheint ADHS in der Schule?
2. Wie wird ADHS in der Öffentlichkeite verhandelt?
3. Was ist ADHS tatsächlich?
4.Wie fühlt sich ein betroffenes Kind/ Jugendlicher?
5. Einige Empfehlungen zum Gespräch mit Eltern betroffener Schüler



I. Einleitung

Vielen Dank für Ihre Einladung.
Es freut mich, dass Sie Fr. Sonnenmoser und mir vom Bundesverband ADHS-Deutschland Gelegenheit geben, Ihnen Informationen zu ADHS weiterzureichen.
Es ist von großer Notwendigkeit, sich zu informieren und das Gespräch zu suchen – ich komme am Schluss meiner Ausführungen noch einmal darauf zurück.
Sie gehen hier an Ihrer Schule in die richtige Richtung. Darüber freue ich mich.

Meine Ausführungen habe ich in fünf verschiedene Fragen gegliedert.
Dabei gehe ich vom Äußeren ins Innere, also in der Weise vor, wie Ihnen als Pädagoginnen und Pädagogen ADHS bei betroffenen Schülern begegnet.




II. Hauptteil

1. Wie erscheint ADHS in der Schule?

ADHS zeigt sich nicht in einem Erscheinungsbild, sondern in Varianz. Die bekannteste Variante ist der unaufmerksam-hyperaktive Typ.
Betroffene Schüler sind leicht ablenkbar, motorisch ständig in Bewegung und bedürfen dauernder Aufmerksamkeitskontrolle.
Für Sie als Lehrerinnen und Lehrer ist diese Kontrolle schwer zu leisten, weil Sie vor einer ganzen Klasse stehen und nicht nur von einem einzelnen Schüler.

Oft zeigt sich diese Variante des ADHS in Verbindung mit Launenhaftigkeit und spontanen Reaktionen, die nicht immer zum Unterrichtsablauf passen.
Neben dieser Neigung zu mangelnder Impulskontrolle erscheint ADHS auch gelegentlich durch überzogene oder unbegründete Bockigkeit, als oppositionelles Verhalten.

Als Unterrichtender ist man mit einem dieser Züge ausreichend beschäftigt.
Treten mehrere oder alle bei einem betroffenen Schüler auf, ist der Ablauf einer Stunde mehr als in Frage gestellt.

Neben der unaufmerksam-hyperaktiven Variante des ADHS, die am häufigsten wahrgenommen wird, gibt es noch eine weitere, weniger bekannte Variante: Der unaufmerksame Typ ohne Hyperaktivität, das sog. hypoaktive ADS.

Hypoaktivität ist sehr häufig bei Mädchen anzutreffen bzw. wird bei ihnen stärker wahrgenommen.
Hypoaktive Schülerinnen und Schüler sind viel unauffälliger als hyperaktive. Sie wirken dadurch pflegeleichter.
Sie sind langsamer und erscheinen – fälschlicherweise - schwer von Begriff, aber zumindest stören sie nicht den Unterricht.
Sie sehen, dass bei der Wahrnehmung und Beurteilung von ADHS die Rahmenbedingungen eine Rolle spielen.

Als dritte Variante des ADHS ist diejenige zu nennen, die sich nicht durch fehlende Aufmerksamkeit, sondern durch fehlende Impulskontrolle auszeichnet; hier gerät die Namensgebung „ADHS“ an ihre Grenzen.
Schülerinnen und Schüler, die von dieser erst seit jüngster Zeit dem ADHS zugeordnete Variante leiden, neigen zu Wutanfällen, überzogenen Reaktionen, sind in schneller Abfolge himmelhochjauchzend und zu-Tode-betrübt.

Die Besonderheit des ADHS zeigt sich, wie Sie sehen können, an der Bandbreite der Symptomatik und in ihrer Uneindeutigkeit.
Jedes Symptom für sich genommen, ist keinem von uns unbekannt. Wir alle kennen Zeiten, in denen wir unaufmerksam oder launenhaft sind.
Meist aber stehen diese Phasen in Verbindung mit besonderen Lebensumständen. Bei Menschen mit ADHS erscheinen diese Symptome in Häufung, also als Syndrom und unwillkürlich.

Als weitere Problematik tritt beim ADHS hinzu, dass es häufig in Verbindung mit Begleiterkrankungen steht, z.B.
Lernschwächen
Tic-Störungen
Suchtverhalten
Essstörungen



ADHS erscheint verdeckt und es ist dann schwierig zu entscheiden, wo man pädagogisch bzw. didaktisch ansetzen kann.
Sie erkennen an diesem Punkt vielleicht schon, wie wesentlich Information und Offenheit für ADHS ist. Das Syndrom lädt zu vielen Sackgassen ein.


2. Wie wird ADHS öffentlich verhandelt?

Aus diesem Grund gibt es kaum ein psychiatrisch-neurologisches Phänomen, das derart umstritten verhandelt wird und zugleich derart populär ist.
Ähnlich wie bei Depression steht die Beurteilung von ADHS sehr in Abhängigkeit zur allgemeinen öffentlichen Einschätzung.
Aufklärung und Information in Bezug auf ADHS bedeutet Mündigwerden.
Ich nenne drei Schlaglichter einer verfehlten Beurteilung:

ADHS wird als Erziehungsfehler betrachtet
Gerhild Drüe, Pädagogin und Autorin des Buches „ADHS kontrovers“ sieht eine wesentliche Ursache für diese einseitige und darin verfehlte Einschätzung die Psychologisierung der Pädagogik.
Störungen und Auffälligkeiten werden dem familiären Umfeld zugeordnet, leider häufig auch dem Duktus der Psychoanalyse folgend dem mütterlichen Einwirken.
Natürlich kann dieser Faktor eine Rolle spielen, insbesondere wenn nicht nur das Kind sondern auch ein Elternteil von ADHS betroffen ist.
Aber eine einseitige Zuordnung steht eher in Zusammenhang mit einer Ideologisierung des ADHS als mit einer sachlich angemessenen Reflexion.

ADHS wird als Hinweis auf eine verborgene Hochbegabung gesehen
Gelegentlich neigen Eltern zu dieser Auffasssung, weil sie sich das Verhalten ihres Kindes und die damit einhergehenden Probleme nur durch Unterforderung erklären und zugleich die Problematik ins Positive lenken können.
Zwar gibt es unter ADHS-Betroffenen viele sehr begabte Menschen, Hesse, Edison oder Mozart. Aber ein ausgesprochenes Hochbegabungsmerkmal ist ADHS nicht.
Es tritt sowohl bei Hochbegabungen, als auch bei normal- und minderbegabten Menschen auf.

ADHS wird als Modeerkrankung verhandelt
Schließlich wird ADHS gerne als Modeerkrankung betrachtet – einem Duktus, dem gerade in den Medien gerne Folge geleistet wird.
Hier zum Ausdruck, wie stark ADHS in seiner Beurteilung vom gesellschaftlichen Rahmen abhängig ist.
Wir leben in einer Zeit, die Symptome des ADHS provoziert und herausstellt.
Die sehr starke und nicht immer gerechtfertigte Zunahme an Diagnosen und Medikationen hat mit dem derzeitigen Unvermögen zu tun, wirkliches ADHS von adhs-ähnlichen Erscheinungsweisen zu unterscheiden.
Eine Diagnose des echten ADHS bedarf Zeit und einer gewissen Kompetenz. Fehlt beides kommt es nicht selten zu Fehldiagnosen und -medikationen.
Fakt ist, dass die Betroffenheit von wirklichem ADHS in einer Bevölkerung konstant ist und das Phänomen ADHS alt ist und keineswegs eine neue Erkrankung.



3. Was ist ADHS tatsächlich?

ADHS ist eine Variante des Verhaltens und der Wahrnehmung. Es zeigt sich in einer Bandbreite an Symptomen und dieses Symptome in unterschiedlich ausgeprägter Stärke.
ADHS kann sich in extremen Fällen als Störung zeigen, aber viele Betroffene haben gelernt, im Laufe der Zeit mit den Symptomen umzugehen, manchmal sogar Gewinn aus ihrem ADHS zu ziehen.
ADHS hat demnach eine Krankheitsseite und eine Seite der Möglichkeiten.

Das Syndrom ist ein neurologisch-psychiatrisch erfasstes und erforschtes Phänomen.
Es wird durch Schwankungen und Unausgewogenenheiten des Gehirnstoffwechsels verursacht.
Die Weitergabe an Nervenreizen bzw. Informationen über die Synapsen geschieht unregelmäßig.
Daraus ergeben sich die Symptome wie Unaufmerksamkeit, Launenhaftigkeit, Impulsivität usw.

Die Grundanlage für das ADHS ist Vererbung; die Heritabilität ist enorm hoch.
Im Lauf der Reifung des Gehirns kann ADHS verschwinden, doch bei einer großen Zahl von Menschen bleibt es im Erwachsenenalter bestehen.
Hier allerdings zumeist gänzlich verdeckt unter Kommorbiditäten (Begleiterkrankungen) wie Depression und Suchtverhalten.
Neben der unverkennbar hohen genetischen Disposition müssen auch die Ursachen in Erwägung gezogen werden, die diese Veranlagung befördern (Epigenese).
Das führt uns in den schulischen Bereich.


4. Wie fühlt sich ein betroffenes Kind/ Jugendlicher?

Ich nenne auch hier drei Schlaglichter:

Betroffene fühlen sich anders. Sie ecken an, ohne zu verstehen, warum sie stören.
Sie leiden unter den Nachteilen des ADHS, nehmen Kritik und Ablehnung stark wahr und reagieren stark darauf.

Schule wird für betroffene Kinder und Jugendliche aus mehreren Gründen als unangenehm empfunden:
Der Unterricht zielt auf abstrakten Lernstoff und abstrakte Resultate (Klassenarbeiten); Menschen mit ADHS hingegen arbeiten gerne in Projekten oder konkrete Ziele hin.
Am Ende einer langen Lerneinheit Wissen abzurufen gelingt ihnen oft nur unzureichend; sie bleiben hinter ihren Fähigkeiten zurück.

Ein Schultag ist lange. Durch die Hausaufgaben wird er noch verlängert. Die unangenehme Schulzeit setzt sich auch zu Hause fort.
Häufig können sich betroffene Schüler nicht mehr motivieren; Folge: Hausaufgaben werden nicht gemacht.

Das „Schulgewimmel“ wird von Schülern mit ADHS als unangenehm empfunden. Sie können sich nicht zurückziehen.
Im Unterricht ist durchgängig Konzentration verlangt, in den Pausen kippt das ganze in Diffussion; dieses Wechselspiel ist sehr anstrengend.



5. Empfehlungen für Gespräche mit Eltern betroffener Schüler

Rechtzeitig das Gespräch mit den Erziehungsberechtigten suchen: Kurz vor Zeugnissen, Versetzungen oder Schulempfehlungen das Gespräch zu suchen, ist in der Regel zu spät. Die Situation für Sie als Lehrer und die des Schülers hat sich dann oft zugespitzt und die Zeit reicht nicht mehr aus, um konstruktive Überlegungen anzustellen.

Von Vorwürfen oder vermuteten Diagnosen absehen
In Gesprächen mit Eltern von ADHS-Kindern wurde mir gelegentlich geschildert, dass sie mit der dringenden Empfehlung von Lehrern konfrontiert wurden, ihrem Kind Ritalin verordnen zu lassen. Eine Diagnosestellung und medikamentöse Behandlung ist immer Sache eines Mediziners. Die Vorfestlegung eines Kindes auf ADHS erschwert einen sachgemäßen Umgang.
Insbesondere Kinder, die von der hyperaktiven Variante des ADHS betroffen sind, neigen zu verbalen oder körperlichen Ausfällen. Es ist nicht sinnvoll, von diesen Verhaltensweisen auf den Erziehungsstil der Eltern zu schließen. Oft sind diese selbst ratlos und erschrocken über das Verhalten ihres Kindes.

Das Kindeswohl im Rahmen der schulischen Möglichkeiten und Grenzen ins Zentrum rücken
Bei aller Schwierigkeit, die Lehrern die Arbeit mit ADHS-Schülern verursacht, verhilft es zu einer differenzierten Vorhergehensweise, sich vor Augen zu halten, dass das Kind im Mittelpunkt steht. Förderbeschulung, wie in manchen Fällen empfohlen, ist nur in äußerst extremen Fällen hilfreich; in den meisten Fällen von ADHS-Schülern greift sie nicht


Gesprächsverlauf:
1. rechtzeitig das Gespräch suchen
2. sich vor Augen halten, dass die Familien, insbesondere die Mütter oft bereits einen Leidensweg hinter sich haben
3. sich vor Augen halten, dass man im Elterngespräch evtl. auch auf Impulsivität stoßen kann
4. eine breit aufgestellte Gesprächsbereitschaft anzeigen; ADHS betrifft Schule, Elternhaus und Therapie gleichermaßen – hier Kontakt halten bzw. anzeigen, dass man ihn halten will.

Dienstag, 15. Juni 2010

Die Dimensionen des ADHS

Script zum Vortrag vom 20.5.2010 in Böblingen:
Dimensionen des ADHS - Was bedeutet es, von ADHS betroffen zu sein


Zwei Perspektiven
Wie betrachten wir als Betroffene ADHS? In erster Linie sehen wir Betroffene die unmittelbaren Auswirkungen des ADHS. Den Symptomen gilt unsere Aufmerksamkeit. Ebenso der Frage nach Diagnose, Therapie und Medikamenten. Unter diesem Gesichtspunkt, dem der Diagnose und Behandlung, wird ADHS zu einer Krankheit. Es hat jedoch, und das ist das Bemerkenswerte an ADHS, sehr viele Dimensionen. Es ist facettenreich und brillant, nicht nur bezogen auf die eigene Betroffenheit, sondern auch wie ADHS von der Umwelt gesehen wird. Jene Sichtweise hat wesentlichen Einfluss auf die persönliche. Um ADHS gerecht zu werden, ist es also entscheidend, die Verbindung und die Abhängigkeit zwischen der eigenen und der äußeren Sichtweise zu ermessen. Ich setze an den Beginn meiner Ausführungen ein Zitat aus der Nord-West-Zeitung, in dem beide Perspektiven gut zum Ausdruck gebracht werden:
„ADHS wird mehr denn je anerkannt als eine Besonderheit in der Verhaltenssteuerung. Sie ist ein vor allem ein genetisch bedingtes Leiden, das nicht nur den Betroffenen, sondern auch ihrer Umwelt Leiden schafft.“ Impulsivität, Ablenkbarkeit und nicht selten eine große Unruhe machten es den Betroffenen schwer, in einer komplizierten Gesellschaft, den eigenen Weg zu finden.
Nord-West-Zeitung; Art. Symposium „ADHS in Schule und Beruf“; 14.4.´10
http://www.nwzonline.de/Region/Kreis/Wesermarsch/Nordenham/Artikel/2319928/ADHS+zwischen+Schule+und+Beruf.html


Verantwortung
Impulsivität, Unruhe, Ablenkbarkeit sind Symptome des ADHS. Jedes dieser Symptome prägt unser Leben. Wir sind gehalten, Unruhe und Impulsivität in Bahnen zu lenken, mit Unaufmerksamkeit und Ablenkbarkeit umzugehen. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe.
Lynn Weiss schreibt dazu: „Die Wahrheit ist – und Sie und ich wissen das aus eigener Erfahrung -, dass ADS-Züge einen in Schwierigkeiten bringen. Aber das bedeutet nicht, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt. Es bedeutet lediglich, dass die Art und Weise, wie Sie verdrahtet sind, unter Umständen nicht sehr gut zu den Anforderungen einer bestimmten Situation passt. .. Doch was auch immer die Ursache für die Schwierigkeit ist, die Verantwortung, mit Ihrer Situation zurande zu kommen, liegt bei Ihnen.“ Nicht Diagnose, Therapie und Medikation, sondern Verantwortung ist der Ausgangspunkt für Umgang mit ADHS. Er verbindet die eigene Verfassung, die „Besonderheiten in der Verhaltenssteuerung“ mit der Reflexion der äußeren Lebensumstände.

Die Wahrnehmung der Anderen
Dieses Unterfangen kann aber nicht ohne den Blick auf unsere Umwelt in Angriff genommen werden. Die Bedeutung des ADHS in unserem Leben hängt wesentlich von der Weise ab, wie wir durch unser Umfeld damit konfrontiert werden. Die Niederländerin Karin Windt macht in ihrem Buch „ADD – The Hidden Obstacle“ (ADHS – das verborgene Hindernis) ein Gedankenexperiment. Sie versetzt ADHS in die Zukunft. Vieles wird dann vom PC aus über das Internet geleistet werden, Einkäufe oder berufliche Aufgaben beispielsweise. Es ist denkbar, dass diese Entwicklung Menschen mit ADHS entgegenkommt und die Betroffenheit davon gar nicht mehr so drängend erscheint wie gegenwärtig. Ob das tatsächlich der Fall ist, wird man sehen. Doch der Gedanke von Karin Windt, dass die gesellschaftliche Wahrnehmung von ADHS wesentlich in Abhängigkeit zu den Zeitumständen steht, ist richtig.Ein anderes Beispiel: Die ADHS-Spezialistin Astrid Neuy-Barthmann äußerte während des Sindelfinger ADHS-Symposiums 2009, dass sich ohne Zweifel der Einsatz von Ritalin verringern ließe, wenn die Schülerzahlen in den Klassen kleiner und die Möglichkeiten der individuellen Betreuung besser gewährleistet wären. Sie brachte damit zum Ausdruck, dass über die Medikation die problematischen schulischen Rahmenbedingungen bewältigt werden. Die Vielgestaltigkeit des Syndroms birgt die Gefahr, dass bei einer undifferenzierten Betrachtung ADHS zum Ersatzkonflikt für Auseinandersetzungen wird, die andernorts geführt werden müsste. Was für Kinder und Jugendliche im Blick auf die Schule, gilt für erwachsene ADHS-Betroffene im Blick auf die beruflichen Erwartungen.

Die Erwartungsgesellschaft
Wir leben, wie das eingangs erwähnte Zitat deutlich macht, in einer komplizierten werdenden Gesellschaft. Der Leistungsdruck des einzelnen erhöht sich; wir müssen beruflich funktionieren. Von diesem Funktionieren ist viel abhängig: Unsere Lebensplanung, unser Auskommen bzw. das unserer Familien. Wenn wir scheitern, wenn wir nicht funktionieren, stellen wir unsere Lebensgrundlagen in Frage. Menschen mit ADHS sind viel häufiger als Menschen ohne ADHS der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt. Doch hinterfragen wir einmal dieses Scheitern? Wir sind gehalten, den wirtschaftlichen Anforderungen in unserer Gesellschaft gerecht zu werden. Unsere Arbeitskraft und Leistungsfähigkeit müssen sich als lohnenswert erweisen. Sie dürfen keine Sprünge oder Unberechenbarkeiten wie Krankheit oder Behinderung aufweisen. Unsere in entscheidender Hinsicht auf wirtschaftliche Leistung ausgelegte Gesellschaft verlangt optimale Leistungsfähigkeit. Unsere Erwartungsgesellschaft zeichnet sich in der Hauptsache durch ökonomische Erwartungen aus. Sich an die wirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen, ist, wie man am gegenwärtigen politischen Geschehen erkennen kann, das Gebot der Stunde. Doch wer kann die Erwartung beständiger Willfährigkeit und Leistungsfähigkeit tatsächlich garantieren? Im Grunde ist kaum jemand dazu in der Lage und dennoch richten wir uns nach dieser Vorgabe. Die Schriftstellerin Julie Zeh beklagt diese „Bereitschaft zur Selbstausbeutung“. Menschen mit ADHS haben es in einem solchen Umfeld schwer. Sie scheitern, selbst wenn sie diese Bereitschaft haben, die geforderten Leistungen zu erfüllen. Sie widersprechen einem dem Ideal der ökonomisierten, d.h. auf wirtschaftliche Gesichtspunkte ausgerichteten Weltanschauung (R. Willemsen). Die Gefahr durch das Raster der Erwartungsgesellschaft zu fallen ist für Menschen mit ADHS höher. Der bestehende Druck lässt kaum Gelegenheit, sich der Frage zuzuwenden, welches Raster denn für sie das passende ist. Wenn es um die eigene Lebensführung geht, ist allerdings diese Frage die wesentliche. Gewiss nicht ohne sich vollständig den gesellschaftlichen Erwartungen zu entziehen, das wird kaum möglich sein. Als Betroffene müssen wir allerdings zunächst nach uns fragen, nach unseren Begabungen und unseren Grenzen. Dann im folgenden Schritt müssen wir auf das achten, was uns umgibt, also was die Umstände, in denen wir leben, von uns verlangen. Gehen wir den umgekehrten Weg, also von den Erwartungen ausgehend, erleben wir uns viel öfters als gescheiterte Menschen. Unter dieser Voraussetzung ist es im Grunde kaum mehr möglich, eine andere Perspektive als die des Mangels und des Defizites einzunehmen.

Die Dimensionen des ADHS
Betrachtet man ADHS vom Standpunkt der Umstände und Erwartungen aus, ist es schlüssig, das Syndrom als Behinderung, Handicap oder Krankheit zu bezeichnen. Aber ADHS zeichnet sich eben nicht nur durch diese Seite. Der Artikel der NWZ bezeichnet ADHS zu Recht neutral, als „Besonderheit der Verhaltenssteuerung“.
Ähnlich sieht es auch Lynn Weiss. Sie spricht von einer „alternativen Verdrahtung“ des Gehirns. Diese Definition wird dem neurologischen Befund des ADHS gerechter als diejenige, die grundsätzlich von Krankheit und Behinderung spricht. Natürlich gibt es die Krankheits- und Behinderungsseite des ADHS.
Aber es gibt auch ADHS-Eigenschaften wie
Kreativität
das Vermögen, Querverbindungen herzustellen
ein besonderer Sinn für Gerechtigkeit

Wenn ich von mir als ADHS-Betroffener spreche, muss ich sowohl diejenige Symptome einbeziehen, die es mir schwer machen, im Leben zurecht zu kommen und einer Behandlung bedürfen. Ich muss ebenso den anderen, positiven Eigenschaften Raum in meinem Leben geben. Die Möglichkeiten und Grenzen aufeinander zu beziehen, d.h. auf Gaben (wie der Kreativität) zurückzugreifen und mit den Unzulänglichkeiten (wie der mangelnden Impulskontrolle) umzugehen, ist die große Herausforderung eines ADHS-Lebens. In diesem Zusammenhang bemerkenswert ist, dass Betroffene ihr ADHS als für ihre Persönlichkeit kennzeichnenden Teil betrachten. Auf die Frage, ob sie, wenn es möglich wäre, ihr ADHS ablegen könnten, antwortet eine nicht geringe Zahl, dass ADHS zu ihnen gehöre und sie sich nicht ohne es vorstellen können.

Doch unter dem Eindruck des Scheiterns ist es kaum möglich, sich auf seine Stärken zu besinnen. Menschen mit ADHS erleben sich grundsätzlicher in der Verfassung, Anforderungen nicht stemmen zu können, die bewältigbar zu sein scheinen. Viele entwickeln aus dieser Erfahrung eine Lebenshaltung des Sich-Selbst-Hinterfragens und beständigen Sich-Rechtfertigen-Müssens. Diese Erfahrung mündet entweder in eine aggressiven, aufreibenden Dauerwiderstand gegen alles und jeden oder in eine grundsätzlich defensive Lebenshaltung. Als Beispiel für letzteres sei eine Anekdote aus Karin Windts Buch erwähnt. Sie erzählt, dass jemand versuchte, ihr Fahrrad zu stehlen – sie hatte vergessen, es abzuschließen. Als sie den Dieb stellte, erklärte ihr dieser dreist, dass sie selbst die Schuld am Diebstahl trüge, denn es sei sträflich unaufmerksam von ihr gewesen, das Rad ungesichert abzustellen. Aus der Erfahrung des grundsätzlichen Sich-In-Frage-Stellens gab sie dem Dieb tatsächlich Recht. So bizarr dieses Beispiel wirkt, so sehr zeigt es doch, dass das eigene Empfinden von angemessen und unverhältnismäßig durch die dauerhafte Erfahrung des Scheiterns verzerrt werden kann. Um dieser Verzerrung entgegenzutreten, bedeutet dies für Menschen mit ADHS sich bewusst und ohne primären Blick auf die Lebensumstände, den Fragen zu stellen:
Was passt zu mir?
Wo bedarf ich äußerer Hilfestellung?
Wie und wo kann ich meine Möglichkeiten und Gaben zur Geltung bringen?
Welche Erwartungen an mich sind angemessen und gerechtfertigt; welchen muss ich mich stellen?
Welche Erwartungen sind für mich nicht erfüllbar?

Die Antworten können lauten, eine Medikation zu beanspruchen, wenn sich der Alltag dadurch leichter bewältigen lässt. Sie kann bedeuteten, eine Halbtagsbeschäftigung ins Auge zu fassen, wenn die berufliche Situation überfordert (dabei müssen die finanziellen Konsequenzen aufrichtig bedacht werden). All dies führt dazu, zu erkennen, dass „ADS .. viele gute Seiten hat, man muss nur die Hierarchie der Besonderheiten erkennen, sie nicht bekämpfen, sondern sich ihrer bedienen, um seine Persönlichkeit voll entfalten zu können.“ (Helga Simchen)
Insgesamt ist bei der Betrachtung von ADHS ist zu beachten, dass es in erster Linie zwar den einzelnen betrifft, aber eben auch durch die Gesellschaft beansprucht und gedeutet wird. Wir halten uns nicht in einem Raum auf, bei dem nur die individuellen Befindlichkeiten und Einschätzung im Blick auf unser ADHS maßgeblich sind. Wir befinden uns stets in einem Wechselspiel mit der Gesellschaft und den in ihr herrschenden Umständen. Deshalb sind der Erfahrungsaustausch und Kenntnis um ADHS unverzichtbar, um Klarheit und Klärung herbeizuführen.

Das Zitat von Helga Simchen zeigt, dass ADHS keine reine Behinderung ist, sondern zugleich eine Chance bedeutet. Unleugbar leben wir in einer Zeit, die es Betroffenen, insbesondere Kindern und Jugendlichen nicht leicht macht. Umso wichtiger ist es, sich seiner Möglichkeiten bewusst zu werden und seine Gaben zu fördern. Hermann Hesse, der in ausgeprägtem Maße von ADHS betroffen war, viele Krümmungen seines Lebensweges durchschritt und nicht wenige innere und äußere Kämpfe austragen musste, kam dennoch zu einer positiven Lebenseinstellung. Davon künden die Zeilen seines wunderbaren Gedichtes „Stufen“, aus dem ich am Ende zitiere:

Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

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